Dienstag, 28. September 2021

Die Diktatur der Wissenden

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Die Diktatur der Wissenden

Diktatur? Welche Diktatur? Wir leben doch in einer der freiesten Gesellschaften der Welt, im »besten Deutschland aller Zeiten« (Frank-Walter Steinmeier). Also: »Diktatur? Ich sehe weit und breit keine. Dummes Geschwätz! Geschwurbel!«

Und so findet eine Wahl statt, und nur sieben Prozent der Wahlberechtigten (lt. einer Sendung zur Wahl von ARD/ZDF) sollen angeblich das Thema Corona in ihre Wahlentscheidung mit einbezogen haben. Es war ja auch so gut wie kein Thema im Wahlkampf.

Das Thema, das unser Leben quasi umgekrempelt hat und dies aller Voraussicht nach auch weiterhin tun wird, ist für die überwältigende Mehrheit kein Thema. Ein Nicht-Thema. Nur ca. 1,4 Prozent der Stimmen hat »die Basis« bekommen, die einzige Partei, die so etwas wie eine »unabhängige Wahrheitskommission« fordert und das sofortige Ende aller staatlichen »Maßnahmen zur Eindämmung der ›Pandemie‹«. Ich fürchte, das spiegelt exakt die Situation wider.

Nur eine winzige Minderheit ist überhaupt in der Lage oder besser bereit dazu, sich mit unserem brennendsten Problem auseinanderzusetzen. Es ist in etwa so, als ob auf der sinkenden Titanic fast alle mit ihrem Kram beschäftigt sind, und nur die paar »Idioten«, die schreiend verkünden, dies »garantiert unsinkbare« Schiff liefe gerade voll sind mit der Realität verbunden. Ansonsten ist man vollauf damit beschäftigt, sich zu produzieren und darzustellen und die eigene Großartigkeit zu feiern.

Es hat schon seinen eigenen Humor, dass einer der allerersten Beiträge hier von vor gut zehn Jahren genau dieses Bild bemüht. Ich hätte nie gedacht, dass es mal eine solch passende, ja dramatische Allegorie zu unserer aktuellen Situation werden würde. Und das war es bereits vor zehn Jahren …!

Damit sind wir beim aktuellen Geschehen. Die Wahl ist gelaufen, und es sind letztlich die gleichen Akteure am Gange wie vorher. Na ja, ein paar Namen und Gesichter werden sich ändern, doch alles sonst wird weiterlaufen. Und steht die neue Regierung erst mal fest, wird man die »Maßnahmen« schnell wieder in den Vordergrund schieben – spätestens dann. Vielleicht gibt’s ja vorab auch einen »Notfall«, der die Dinge beschleunigen wird …

Die bisherige »Pausierung« weiterer Verschärfungen hierzulande wird bald vorbei sein. In Ländern ohne Wahl geht man da sehr zügig voran – ich nenne mal als stellvertretende Beispiele Australien und Kanada. Die Leute werden fast überall nach und nach an einen Polizeistaat gewöhnt. Wo nötig, redet man öffentlich von der Bedeutung demokratischer Werte und deren Schutz als oberste Priorität, während man sie hinter dieser rhetorischen Fassade zügig beseitigt. Ist hier ja letztlich genauso, wir sind nur noch nicht so weit wie dort, was staatliche Gewalt angeht. Noch nicht. Es musste erst mal gewählt werden.

Doch die Leute werden das alles »kaufen«, genauso wie das Steinmeier-Zitat oben. Ich habe es sinngemäß bereits zig Male wiederholt gehört. Einzig in den neuen Bundesländern, der ehemaligen DDR, scheint die Skepsis deutlich größer zu sein. Das ist sogar in der Grafik des RKI zur »Corona-Lage« zu sehen, die man täglich aktualisiert auch auf »Spiegel Online« präsentiert bekommt. Da wäre es womöglich sogar eine gute Idee, die Mauer wieder aufzubauen – diesmal wirklich als antikapitalistischen Schutzwall, von einer Bevölkerungsmehrheit dort als Selbstverteidigungsmaßnahme gewollt und unterstützt … Entschuldigt meinen sarkastischen Seitenhieb, doch das kam mir gerade.

Ich hatte an anderer Stelle (siehe dort 13.5.20) schon mal meinen Eindruck geäußert, dass wir längst eine Demokratie ohne Demokraten sind. Der Zeitgeist geht in eine ganz andere Richtung, und damit komme ich wieder zu meinem Titel zurück: Ich bin umgeben von Wissenden. Von Leuten, die genau wissen, wo’s lang geht. Die genau wissen, wie’s geht. Die durchblicken, die’s drauf haben. Die erwacht, die »woke« sind. Und damit automatisch denen überlegen, die es aus ihrer Sicht nicht sind.

Das gibt ihnen das Recht, sich über sie aufzuschwingen. »Wenn du diese Sachen dort nicht kennst, dann weißt du bestenfalls die Hälfte zum Thema Corona!« So hörte ich das gestern am frühen Abend in einem Telefongespräch mit einem Menschen, dem ich mal sehr nahe war und der im Frühjahr letzten Jahres zunächst den Kontakt abgebrochen hatte, weil ich aus seiner Sicht irgendwelchen Verschwörungstheorien folgen würde.

Ja, vielleicht gibt es sie ja wirklich, die eine ultimative Quelle der Wahrheit, die man unbedingt kennen muss, um überhaupt mitreden zu können, ja um überhaupt das Recht dazu zu haben. Ich entgegnete ihm, ich hätte mich seit Längerem aus ganz verschiedenen Quellen informiert, von Befürwortern wie Gegnern der »Maßnahmen«, und daraufhin nach und nach meine eigenen Schlüsse daraus gezogen.

Nein, wenn ich diese eine Quelle, diese Autorität nicht kennen würde, dann hätte ich im Grunde keine Ahnung, kam zurück. Die sei es, die sei maßgeblich, weil … Ich habe dann nach unserem Gespräch mal im Internet nachgeschaut. Ja, das sind Leute, die der Schulmedizin seit Langem kritisch gegenüberstehen. Doch jetzt sind sie bei den Corona-Maßnahmen voll dabei. Wie so viele, die seit eineinhalb Jahren mit wehenden Fahnen für das Regierungsnarrativ in den Krieg ziehen, aber vorher regierungs- bzw. schulmedizinkritisch waren. Denn nur weil sie v. C. kritisch waren, heißt das keinesfalls, dass sie dadurch jetzt quasi automatisch Recht haben. Leider. Nur ein Beispiel von vielen, vielen ähnlichen.

Wenn sie je kritisch waren, so muss irgend jemand, irgend etwas gewissermaßen auf die »Aus«-Taste ihres kritischen Verstandes, ja des gesunden Menschenverstandes gedrückt haben. So zumindest wirkt es auf mich. Doch was mich immer noch innerlich erzittern lässt, ist die Vehemenz und die unerschütterliche Selbstgewissheit, mit der das alles vorgetragen wurde und wird. Dieses Gefühl von unfassbarer Überlegenheit über einen kleinen Spinner, über einen im Grunde bedauernswerten Verschwörungstheoretiker, der es nicht rafft.

Nein, das begegnet mir auf Schritt und Tritt, wenn ich mich noch auf Diskussionen einlasse. Es ist also fast schon alltäglich. Nur war es hier auf eine Weise, die mich getroffen hat – immer noch geht so was, auch nach anderthalb Jahren noch, auch nach einem Leben noch. Und es brachte eine alte Frage wieder hoch, die mich gerade in jüngerer Zeit intensiv beschäftigt: Gibt es in meinem Leben Menschen, die mir gut tun? Die in eine ähnliche Richtung wie ich auf, ins Leben schauen? Die Frage verfolgt mich regelrecht, und ich bin meinem Gesprächspartner im Grunde trotz Allem dankbar, sie indirekt wieder mal aufgeworfen zu haben.

Ja, es tut weh, und gleichzeitig ist es wichtig, sich ihr zu stellen: Welchen Anteil habe ich an meiner Situation? War ich blind für Menschen, die mit mir in die gleiche Richtung schauten? Und wenn ja, warum? Diese Wendung stammt übrigens nicht von mir, sondern von Antoine de Saint-Exupéry, dem Autor des »Kleinen Prinzen«. Er umschreibt jedoch etwas auf poetische Weise, was sich weiteren Worten, weiterer Annäherung entzieht.

Und genau das ist das Problem. Denn ich habe vorhin versucht, etwas mehr oder weniger gestammelt in Worte zu fassen, von dem ich selbst weiß, dass das unmöglich ist. Leider und zum Glück. Leider, weil dadurch eine elementar wichtige Ebene unseres Lebens, ja unseres Menschseins jenseits von Worten und Begriffen bleibt, nicht vermittelbar ist. Ansonsten hätten wir als Spezies eine Chance, unseren drohenden Untergang noch abzuwenden. Ich bitte mein Pathos zu entschuldigen, doch ich fürchte, so ist es.

Und zum Glück, weil etwas ganz Wichtiges dadurch außerhalb des Zugriffs unseres kontrollbesessenen Verstandes liegt. Er wird wütend, wenn er sieht, dass er da nicht hinkommt, und gibt sich alle Mühe, diese Ebene zu verhöhnen, zu diskreditieren und aus der Welt zu drängen. Das gelingt in der Regel, denn so funktioniert unsere Welt, und dort will sie auch hin – Stichworte Technokratie und Transhumanismus, Verschmelzung von Mensch und Maschine, künstliche Intelligenz.

Wie praktisch, dass diese Ebene »stumm« ist. In unserer von Worten, Symbolen und Bildern platzenden Welt hat sie daher keinen Platz mehr, ist obsolet. Ein aus der Zeit gefallener Idiot, wer noch irgendwie einen Wert in ihr sieht. Denn heute leben wir in der Welt der Wissenden. Sie haben die alleinige Deutungshoheit über das Leben. »The Blizzard of the world has crossed the threshold and it’s overturned the order of the soul«, sang Leonard Cohen schon vor vielen Jahren weitsichtig und brachte es damit zumindest poetisch auf (so was wie …) einen Punkt – so weit man das überhaupt kann.

So wissen sie also, fast alle. Und wehe, jemand »weiß« nicht – wirklich oder nur scheinbar. Das ist dann die implizite Aufforderung, sich über ihn zu erheben – moralisch und machttechnisch. Ein Sieg auf ganzer Linie. Und da fast alle so »ticken«, sehen wir einer grandiosen Zukunft entgegen. Und wenn die, die es nicht tun weg sind, ist die Welt nun wirklich in Ordnung, nicht wahr?

Dieses Zitat wird Einstein nachgesagt, und es bringt, implizit, meine Gedanken zu ihrem Endpunkt: »Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen.«

 

 

Heute, am 1. März 2022, habe ich einen sehr interessanten Artikel zum Thema über den Newsletter von newbraveworld.org bekommen. Nein, das ist kein knackiger »Sachartikel, der es auf den Punkt bringt«. Im Gegenteil – es ist eine philosophische Abhandlung über die Frage »Was ist Freiheit?«. Diese Frage ist leider bei Weitem nicht so einfach zu beantworten wie offenbar viele glauben. Denn die fast schon absolute Selbstgewissheit, die die weitaus meisten vor sich hertragen ist, im Gegensatz zu deren Überzeugung, ein zentraler Teil der Probleme, die ich oben umrissen habe. Leider ist der Artikel auf Englisch und setzt somit gewisse Sprachkenntnisse voraus. Vielleicht packt es mich ja noch und ich übersetze ihn mal.

Wie immer freue ich mich sehr, wenn ich aus berufenerem Munde (oder berufenerer Feder) ähnliche Gedanken wie meine höre. Ich fühle mich dann weniger verrückt. Heute (14. März ’22) ist bei »apolut.net« ein kurzer Artikel (auch zum Anhören) von Wolfgang Bittner zu finden, der sich (sinngemäß) auch mit der »Diktatur der Wissenden« beschäftigt. Er umreißt die dramatische Situation, in die wir inzwischen geraten sind, und die, wenn nicht noch ein Wunder geschieht, unweigerlich auf die nächste gigantische Katastrophe zusteuert.

Inzwischen geht es schnell auf Weihnachten zu. Eben (6.12.22) las ich die zwei letzten Beiträge von Michael Sailer (vom 2. und 4. Dezember), und ich denke, dass sie thematisch gut hierher passen. Im älteren geht es darum, dass Symbole inzwischen fast alles Reale ersetzt haben. Eine wie ich finde wunderbar bissige Glosse auf das ganze Anspruchsdenken und -Gehabe, das wie ein Krebsgeschwür bis in die letzten Winkel unser aller Leben vorgedrungen ist. Ist ein sozialer Körper, der fast nur noch aus Ansprüchen und fixen Ideen besteht noch lebensfähig? Was hält ihn noch zusammen, gerade eben so?

Im jüngeren Artikel geht es noch direkter um das Thema, das ich oben behandelte – das »Wissen«. Und die aus meiner Sicht inzwischen unfassbare Schizophrenie, in der wir uns kollektiv befinden. Oder auch, wie ich es schon nannte, der kollektive Realitätsverlust. Heute kann völlig irres Zeug behauptet werden, ganz groß und überall, und es kommt so gut wie kein Widerspruch. Mit »völlig irre« meine ich, dass früher der gesunde Menschenverstand ausreichte, um es als irre zu erkennen. Heute muss es nur ein »anerkannter Experte« sagen, und alle gehen mit. Unfassbar! Nun, für mich zumindest. Aber es war ja schon immer so: Was als »normal« gilt, bestimmt immer die Mehrheit.

Habe heute (18. 5 23) noch einen interessanten Artikel bzw. Podcast zum Thema gefunden, der die zeitgeistige Art des stolzen Schwarzweiß-Denkens thematisiert. Alle, die dies nicht teilen werden der »Vereinfachung« und des »Querdenkens« (seien also demnach »Nazis«, Antisemiten« etc.) beschuldigt und abgekanzelt.

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