Donnerstag, 2. Juli 2020

R u woke?

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R u woke?

»Woke« – wach, erwacht, ja gar erleuchtet sein – das verbindet sich mit diesem Begriff aus dem angelsächsischen Raum. Denn wer »woke« ist, »Wokeness« erreicht hat, der ist besser als die anderen, die noch nicht »so weit« sind. Wie ich zum Beispiel. Wer »woke« ist, ist angekommen. Weiß. Blickt durch. Kann klar sagen, was Scheiße ist und was gut. Und weiß einen geheimen Konsens vieler »Wokes« hinter sich.

Es ist die geistig-spirituelle Manifestation von Überlegenheit. Da du durchblickst, weißt du sofort Bescheid. Und noch besser: Du hast alles Recht der Welt, deine Meinung, deine Sicht direkt und schonungslos zu äußern – egal ob verbal, durch Taten oder beidem. Political Correctness war gestern. Heute ist es »Wokeness«.

»Woke sein« ist die intellektuelle Seite der Coolness. Die geistige Klarheit, der Durchblick, die Sicht von außen. Political Correctness hatte ja eigentlich einen guten Ansatz: Sich bestimmte Machtstrukturen und Hintergründe bewusst zu machen, die sich zuallererst über Sprache artikulieren, aber auch über soziale Strukturen und Konstrukte. Sich diese bewusst zu machen und dagegen anzugehen ist ja eine gute Idee. Doch wie alles, was umhinterfragt und bierernst betrieben wird, sich zwangsläufig verselbstständigt und dann fast immer mehr als Fragwürdiges hervorbringt, ja sich ins Gegenteil verkehrt, passierte das auch für die Political Correctness.

Und »Wokeness« trägt dieses Konzept ja noch ein ganzes Stück weiter. Neigte Political Correctness schon dazu, sich in eine moralisch höhere, überlegene Position zu setzen, so kostet Wokeness dies nun hemmungslos und ohne Schuldgefühle aus. Dass solch ein Bewusstsein letztlich menschlich und sozial in eine Sackgasse und zu Konflikten führen muss, leuchtet eigentlich ein. Ja, es kann sogar so weit gehen, regelrecht fanatisch zu werden, in quasireligiöses Eiferertum zu verfallen.

Das ist den »Wokes« aber nur selten bewusst – geht doch der allgemeine Trend des Verhaltens sowieso in diese Richtung. Hier äußert sich das dadurch, dass der Dialog, der wirkliche Austausch, die Dialektik, inzwischen so gut wie tot ist. Es geht meist nur noch um Deutungshoheiten, um gutes Image, um Autorität – also um Macht. Um ein geistiges, aber auch ganz weltliches Statussymbol, um Aufsteigen und sich halten in der allgemeinen Hackordnung.

Doch wo wir gerade bei Deutungshoheiten sind: Was »gilt«, also was »woke« (bzw. cool) ist, das ändert sich laufend. Ja, es gibt ein paar Konstanten, aber abgesehen von denen sind die Dinge im Fluss. Also besser in der Nähe des Konsenses bleiben. Ansonsten riskierst du einen Shitstorm, letztlich deinen selbst verschuldeten Rufmord. Gar deine Exkommunizierung, im wahrsten Sinne des Wortes: Du gehörst auf einmal »nicht mehr dazu«. Und wieder aufgenommen zu werden ist ungewiss, selbst wenn du öffentlich Abbitte schwörst. Etwas bleibt immer hängen. Denn so ziemlich jede/r hat sich heute als absolut gesetzt. Da bleibt wenig Raum für menschliches Maß.

Mir kommt dazu auch gerade, dass ja die »Wokeness«-Haltung, bzw. das zugrunde liegende Bewusstsein, sich inzwischen praktisch flächendeckend durchgesetzt hat – weltweit. Etwas zu denken und zu tun, das außerhalb des allgemeinen Konsenses liegt, würde bedeuten, sich von seinem Status des Stars, Durchblickers und Könners herabzulassen, sich zu verunsichern – sich also in Frage zu stellen. Und das ist etwas, das heute gar nicht geht. Dies bildet zusammen mit der postmodernen Haltung, jegliche Maßstäbe – mithin auch Grenzen – abzulehnen, eine brisante Mischung. Alles gilt jetzt, und es ist gut, weil nur das die Referenz ist. Und es ist gut so, weil ich es sage – beziehungsweise, weil es der Konsens ist. Realitätsverlust ist nahezu unausweichlich.

Nicht nur die Regierenden, sondern auch die Menschen selbst können also gar nicht mehr zurück – außer, sie würden wieder anfangen, mit sich selbst in Kontakt zu kommen, also auch mit ihrer Unsicherheit, ihren Ängsten und Traumata sowie ihren echten oder vermuteten Defiziten. Sie müssten also von Göttern wieder zu Menschen werden, von Hochmut zur Demut kommen. So was ist heute undenkbar. So also gehen die Menschen noch entschlossener in die Richtung, in die sie bereits vorangegangen sind: noch mehr Selbstbewusstsein, von sich restlos überzeugt Sein, noch mehr Eitelkeit und Narzissmus, noch mehr »besonders Sein«. Und so kommt, wie es kommen muss: Wenn man die Leute einmal »hat«, »rastet« es geradezu ein. Sie sind dann in ihrem selbstgebauten Luxusgefängnis gefangen. Freiwillig – lieber sterben als es verlassen.

Es ist in etwa so, als ob sich alle in ein Hochsicherheitsgefängnis begeben haben – Türen und Tore dicht, und dann den Schlüssel ins Klo gespült! Hier drinnen sind alle sicher vor sich selbst, Könige und Königinnen per eigenem Dekret. Glauben sie zumindest. Und je hemmungsloser die Feierlichkeiten, die Partys zur Huldigung der eigenen Größe werden, desto höher wird auch die Schwelle, sich selbst, also das eigene bescheidene, gewöhnliche, tief verwundete Menschsein anzunehmen. Zusammen lässt es sich besser verdrängen als alleine. Aber dieses »Zusammen« darf nicht wirklich zusammen sein. Es muss nur das Gefühl vermitteln, nicht alleine zu sein.

In Wirklichkeit ist es eine Ansammlung von einzelnen, vereinsamten Menschen, unfähig zu wirklicher menschlicher Nähe, in ständiger, misstrauisch lauernder Konkurrenz zueinander stehend, sich abgrenzen müssend, immer darauf bedacht, den Status, das gute Aussehen zu bewahren. Ein Maskenball als Dauerzustand und ultimatives Ziel. Menschen, die eigentlich schon tot sind, obwohl ihre Körper sich noch bewegen, sie noch atmen, ihr Herz noch schlägt. Die jedoch im Grunde Zombies, Untote sind. Zu protestieren würde voraussetzen aufzuwachen, über das eigene Leben zu erschrecken. Doch wer will das schon? Der oder diejenige würde von einem auf den anderen Moment nicht mehr »dazugehören« – auch nicht mehr zum eigenen Größennarrativ. Was vielleicht das Schlimmste ist. In Gegensatz zu früher bist du dann nicht mehr nur ein »Anderer«, sondern du verlierst heute auch deinen elementaren Status als ernst zu nehmender Mensch.

»Nicht dazugehören« ist eine Urangst, die weder angeschaut wird, geschweige denn hinterfragt. Gemeinsam könnten wir sie überwinden, denn wir haben sie alle. Sie ist viel älter als der moderne Mensch und hatte für hunderttausende von Jahren auch ihren Grund. Doch dazu müssten wir bereit sein, uns selbst und diejenigen um uns so zu sehen wie wir sind: Einfach nur als Menschen.

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