Sonntag, 17. Oktober 2021

Trotz

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Trotz

Trotz. Ein altes deutsches Wort, wird nur noch selten verwendet. Vor Kurzem las ich es aber mal wieder an prominenter Stelle: Da ging es darum, »Impfverweigerer« seien »vor Allem trotzig«. Kleine Kinder sind »trotzig« – wenn sie nicht das machen, was die Erwachsenen von ihnen wollen. Ist etwas grundsätzlich Negatives. Nicht gehorchen? Geht gar nicht. Nicht in diesem Land.

Und überhaupt – wir befinden uns doch »im Krieg mit einem Virus«. Gab es nicht früher »Kriegsdienstverweigerer«? Ja, ich erinnere mich noch, hatte damit sogar selbst zu tun. Sie waren ähnlich verächtlich gesehen wie heute die »Impfverweigerer«. Beide entziehen sich einem Krieg, einem »patriotischen Akt«, einer patriotischen Pflicht, einer gesellschaftlich angesagten Solidarität für eine gute Sache, die die Volksgemeinschaft trägt und erträgt. Sie sind egoistische Verpisser und Verräter. Machen nicht nur nicht mit, sondern fallen der gerechten Sache gar in den Rücken. Und nur im harmlosesten, wohlwollendsten Fall kann man sie noch als trotzige große Kinder sehen. Doch die Geduld der Erwachsenen – der Gerechten und Wissenden – mit denen ist irgendwann mal zu Ende.

Erwachsene sind nämlich nicht mehr trotzig. Hierzulande ganz bestimmt nicht. Sie machen, was man von ihnen erwartet. Oder besser: Was sie von sich selbst erwarten. Das ist gemeinhin eins geworden: Die allermeisten Leute wollen das, was sie eh tun sollen. Das fühlt sich gut an, gut und richtig. Das macht man eben so. Das sei erwachsen, heißt es.

Und heute ist das ganz besonders wichtig. Da die allermeisten wissen, was richtig und gut ist, ziehen sie dafür auch in den Krieg – selbst wenn dies darauf hinausläuft, sich und den Menschen um sie her zu schaden. Hat man heute so. Mal wieder. Keine Fragen! Oder bist du etwa nicht ganz dicht in der Birne? Wie kannst du nur so trotzig sein und an dem zweifeln, was doch alle wissen?

Das »Wissen« ändert sich ständig, und der Schwarm ändert seine Richtung ganz selbstverständlich mit, wie es eben ein Schwarm so tut: die vielbeschworene Schwarmintelligenz, selbst wenn sie den Fischschwarm dann direkt ins Netz der Fischer führt. Tja. Pech gehabt. Passiert halt. Und noch während sich das Netz um sie her zuzieht, sind sich die allermeisten darin sicher, dass alles so seine Richtigkeit hat. Nur so und nicht anders. Die anderen machen es ja auch.

Nur Trotzige würden sich fragen, ob da womöglich etwas ganz Wichtiges nicht stimmt – ja er und womöglich auch alle Anderen in Gefahr sind. Doch sehr wahrscheinlich sind genau sie es, die eben nicht mit ins Netz geschwommen sind, da sie am Rande waren und dem Schwarm im entscheidenden Moment eben nicht gefolgt sind. Nun sehen sie, was passiert, während sich der Schwarm im Netz mehrheitlich noch in Sicherheit wähnt.

Außer denen am Rande im Netz, die es unerbittlich auf sich zukommen sehen und nach innen gedrängt werden. Sie sind die ersten, die merken, dass irgendwas faul ist, dass Gefahr droht. Doch es ist zu spät. Die »Schwarmintelligenz« hat gesiegt. Und die Fischer freuen sich über die fette Beute.

Zurück zum »Trotz«. Vor einigen Jahren fragte mich mal einer meiner Mentoren, welche Bedeutung Trotz in meinem Leben habe. Die Frage ist eine der besten Fragen, ja vielleicht sogar die überhaupt beste, die mir je jemand gestellt hat. Nur den Ton, in dem sie kam, den verbitte ich mir. Der drückte Knöpfe, brachte alte Wunden in mir, die immer noch am Heilen sind wieder zum Schmerzen. Ich konnte ihm das später auch sagen – meine Dankbarkeit über die Frage als Solche und das mit dem Ton, in dem sie ausgesprochen wurde und den ich als verächtlich und höhnisch empfand.

Im Deutschen gibt es ja ein weiteres Wort, das sich dem Substantiv »Trotz« hinzufügen lässt und dann ein neues Wort ergibt, das wieder eine positive Konnotation hat und auf genau das verweist, auf was ich hier hinaus will – dass nämlich dann auf die Lebensenergie, ja den (Über-)Lebenswillen angespielt wird, der in Trotz und Wut steckt. Es ist das kleine Wörtchen »dem«: Dann nämlich entsteht »trotzdem«.

»Trotzdem« – entgegen allem Widerstand, allen Widrigkeiten. Es hat etwas Kämpferisches: »Ich tue es trotzdem« ist etwas sehr Lebendiges, ja Anarchisches. Ich renne auf den Bahnsteig, auch ohne Bahnsteigkarte. Bin gleichzeitig ganz wach mit dem, was mir und anderen gut tut und was nicht.

Nun, ich bin sehr gespannt, wie man dies medial zu umschiffen gedenkt. Also, dass mit dem Hinzufügen von drei Buchstaben aus einem hierzulande sehr negativ und abwertend konnotierten Begriff im Grunde sein Gegenteil wird. Womöglich wird in psychologischen Thinktanks und Arbeitsgruppen bereits daran gearbeitet.

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4 Kommentare zu »Trotz«

  1. Auch hier kein Kommentar zu diesem fast episch wichtigen Beitrag.

  2. Danke! Ja, ich komme hier im Grunde mal wieder darauf zurück: Wo wollen wir als Spezies, als Gesellschaft hin? Und als Einzelne? Was macht ein gutes menschliches Leben aus?
    Eben habe ich einen langen Artikel gelesen, der sich mit genau dieser Frage beschäftigt: Was passiert da gerade? Wohin sind wir kollektiv »unterwegs«? Der Artikel von Edward Curtis ist bei off-guardian.org erschienen und heißt »The Banners of the King of Hell advance«: https://off-guardian.org/2021/10/24/the-banners-of-the-king-of-hell-advance/

  3. Uh, ja, schwere Kost muss ich sagen.
    Ich möchte damit bekunden, das man diesen Artikel nicht jedem schicken kann. Grins…;-)
    Es stellt sich doch die alles umfassende Frage: „Wie möchten (wir) leben?“
    Wobei ich das „wir“ mit voller Absicht in Klammern gesetzt habe.

  4. Ja, das ist im doppelten Sinne schwere Kost. Denn es ist ja nicht nur in einer Fremdsprache, sondern behandelt auch ein sehr anspruchsvolles Thema. Das wäre auch für Muttersprachler schwere Kost. Und so was ist auch nicht jedermann Sache, schon vom Thema her, wäre es selbst in einer guten deutschen Übersetzung nicht.

    Ja, wer ist »wir«? Mir ist spätestens seit Corona sehr klar, dass das »Wir« von Menschen, mit denen ich gerne zusammenleben würde (und die hoffentlich auch mit mir …) und das »Wir« der überwältigenden Mehrheit sprichwörtlich verschiedene Welten sind. Ich wünschte es wäre anders, doch ich schaue den Dingen ins Gesicht – oder meistens auf die Maske …

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