Dienstag, 12. Oktober 2021
Kontrastprogramm
Kontrastprogramm
Noch gibt es das hierzulande: Eine Art Kontrastprogramm. Obwohl von der einen Seite unfassbar viel mehr vorhanden ist als von der anderen. Vorauseilender Gehorsam ist hier die Regel, kleine Nester zivilen Ungehorsams die Ausnahme. Im Hoheitsbereich des »besten Deutschland aller Zeiten« (Steinmeier), an das die überwältigende Mehrheit nach wie vor glaubt, gibt es zwar ein paar kleine Unannehmlichkeiten. Nun ja, wird bald vorbei sein. Doch Probleme? Na ja, die Handvoll gefährlichen Spinner, die was anderes sehen …
Für heute zwei Erlebnisse dazu. Okay, ich wußte ja bereits, wie sie »drauf« sind. Es war ja nicht das erste Mal, dass ich dort war, seit der Lockdown im Frühjahr beendet wurde. Vor einer Woche schon hatten sie angekündigt, dass sie ab 4. Oktober die »2G«-Regel einführen wollten. Sie? Ich rede hier von einem linken schwul/queeren Traditionsprojekt (seit 1974) in Berlin. Doch dass gerade die Szene besonders eifrig bei den »Regeln« mitmacht, hatte ich schon vor dem Lockdown im Spätsommer vergangenen Jahres mitbekommen und war entsetzt. Und bin es immer noch.
Doch ich wollte selbst probieren, wie ernst sie das nehmen würden. Könnte ja sein, dass ich derjenige bin, der sich da in was reinsteigert. Also machte ich den »Realitätstest«. Bin daher am Sonntagnachmittag hingefahren, um einen älteren Freund zu treffen, der »geimpft« ist. Wohl gemerkt, wir sprechen hier von einer Terrasse, also im Freien sitzen. Es war einer der voraussichtlich letzten schönen Tage, herrlicher Sonnenschein. Ich hatte mich windgeschützt bereits am Mittag eine Stunde in die Sonne gesetzt, die immer noch wunderbar warm ist.
Als ich ankam, wurde ich prompt nach meinem »Impfnachweis« bzw. »Genesenennachweis« gefragt. Hatte ich natürlich beides nicht. Nein, dann könne ich mich nicht auf die Terrasse setzen und müsse wieder gehen. Ich ließ es mir trotzdem nicht nehmen, kurz meinen Freund zu begrüßen und verabschiedete mich dann – nee, nicht direkt unfreundlich, doch ich machte aus meinem genervt Sein keinen Hehl. Mein Freund erzählte mir später am Telefon, selbst er hätte beim »Einchecken« eine kleine Diskussion gehabt: Wieso er denn seinen Impfnachweis nur als Ausdruck bei sich führe und nicht schon im Handy in der »Luca-App«? Eigentlich könne man das nur in digitaler Form akzeptieren. Doch dann durfte er sich doch auf die Terrasse begeben und bleiben …
So weit die erste kleine Geschichte. Mit einer Mischung aus Wut, Trauer und Fassungslosigkeit setzte ich mich aufs Rad und fuhr wieder in Richtung Innenstadt. Ich hatte meine Taschenkamera dabei und kam auf die Idee, auf einem der alten Friedhöfe der Stadt vorbeizuschauen, genauer auf einem der alten Friedhöfe Kreuzbergs, auf dem auch ein Mitte der neunziger Jahre jung an AIDS verstorbener Freund begraben liegt. An seinem schlichten, ja unscheinbaren Grab hielt ich ein paar Minuten inne. Erinnerungen kamen und gingen. Dann machte ich einen kleinen Rundgang durch die Grabreihen und fand auch ein paar Fotomotive.
Auf dem Rückweg nach Hause kam ich an einem kleinen türkischen Café vorbei – eines von vielen, die es gerade hier in diesem Teil der Stadt gibt. Sie verkauften auch türkisches Gebäck außer Haus, und so stoppte ich, weil ich Lust auf eine kleine Stärkung hatte. Niemand dort trug eine Maske – weder drinnen noch draußen. Erfreut ging ich hinein, natürlich auch ohne Maulkorb, und hatte das Gefühl, diese banale Tatsache würde auch was mit den beiden jüngeren Männern hinter dem Tresen machen.
Vielleicht bildete ich mir das aber auch nur ein. Doch ich hatte auf einmal so was wie einen Flashback: eine verblasste Erinnerung daran, wie es ist, »einfach so« in ein Geschäft zu gehen und etwas zu kaufen. Mich darauf konzentrieren zu können, was in mir und um mich her geschieht. Einfach so – ohne mit dieser ubiquitären Massenhysterie konfrontiert zu werden und alle meine Sinne davon zugekleistert zu bekommen. Es hat nicht viel gefehlt, und mir wären die Tränen gekommen.
Denn es war eine völlig selbstverständliche, freundliche Interaktion mit den Leuten hinter der Theke. Die »alte Normalität« unter Menschen, die sich nicht kennen. Ohne diesen inzwischen allgegenwärtigen, unterschwelligen Argwohn, der den weitaus meisten Menschen in Fleisch und Blut übergegangen zu sein scheint und ihnen deshalb schon gar nicht mehr auffällt: Sie haben ihre Maske immer sichtbar griffbereit und ziehen sie inzwischen ohne weiter darüber nachzudenken auf – lieber einmal zu viel als einmal zum wenig …
Hätte mir jemand vor zwei Jahren gesagt, dass so etwas v.C. völlig Banales mal etwas sein würde, das mich tief berühren würde – ich hätte ihm einen Vogel gezeigt und an seiner geistigen Gesundheit gezweifelt. Heute zweifle ich zuweilen an meiner. Denn was als »geistig gesund« gilt, lag und liegt immer in der Deutungshoheit der Mehrheit … Und die wird ihren Weg weitergehen. Wenn es sein muss, über Leichen.