Donnerstag, 12. August 2021

Ich bin eine Ratte, und das ist auch gut so

2 Kommentare

Ich bin eine Ratte, und das ist auch gut so

Fast auf den Tag genau vor drei Jahren hatte ich einen sehr intensiven Traum, der mich, als ich zutiefst erschrocken mitten in der Nacht aufwachte, zitternd zurückließ. Es gibt nur ein paar solcher Träume, an die ich mich auch noch Jahre später erinnere. Dieser ist einer davon.

Ich habe lange gebraucht zumindest zu erahnen, um was es da ging. Nein, keine Deutung aus einem Traumdeutungsbuch. Sondern meine eigene »Deutung« mein eigenes Verstehen. Und dabei sind die Bilder und Gefühle, die ich dabei hatte von zentraler Bedeutung.

Die Ermutigung zu dieser Herangehensweise verdanke ich einem meiner Lehrer. Das tut aber an dieser Stelle nichts zur Sache. Denn etwas sagt mir, dass dieser Traum mir eine Struktur in meinem Leben, aber auch in der Welt gezeigt hat, deren »Krönung« wir seit Anfang letzten Jahres erleben »dürfen« und die dabei ist, alles was wir als menschliches Leben kennen radikal und wahrscheinlich für immer umzukrempeln.

Dazu die zentrale Szene meines Traums: Zusammen mit einer Gruppe von etwa dreißig jüngeren Männern stehe ich in der großen Aula einer alten Universität(?), oben unter dem Dach. Viel dunkle, edle Holztäfelung, Parkettboden. Wir stehen auf Abstand – rundum etwa zwei Meter voneinander weg, in vier oder fünf Reihen. Kommt das jemandem bekannt vor?

Vorne ein Redner in einer feierlichen Robe. Er steht an einem altertümlichen, schmuckvollen Pult auf der rechten Seite. Wir alle sollen eine Ehrung erhalten, deshalb dieser Rahmen, höre ich von ihm. Eine sehr hohe Ehrung. Deshalb sei vorgesehen, dass wir direkt danach erschossen würden. Ein paar der jungen Männer schütteln daraufhin ungläubig den Kopf und gehen vor zur großen Tür, verlassen den Saal.

Die weihevollen Worte des Redners dringen wie durch dichten Nebel zu mir. Mir ist mulmig zumute. Mein Herz rast. Angst, ja Panik kriecht mir den Rücken hoch. Etwas stimmt hier nicht … Ich drehe mich nun ein wenig zur Seite und sehe jetzt, dass schräg hinter jedem von uns ein Polizist steht, in pechschwarzer, martialischer Kampfuniform, mit weißen Stoffhandschuhen. Jeder von ihnen hat eine Pistole in der Hand. Ihre Mienen wirken versteinert, als seien es lebende Statuen.

In dem Moment begreife ich: Die meinen es ernst! Und es durchzuckt mich wie ein elektrischer Schlag: Lieber gehe ich in den Knast, als diese »Ehrung« anzunehmen …! Und schon laufe ich los, nach links an meinen Nachbarn vorbei. Dort ist mehr Platz, und ich gehe nun vor zur großen Tür. Ein ganz junger, schlaksiger und sehr unsicherer Junge schließt sich mir an und folgt mir.

Wir erreichen die Tür und gehen raus in den dunklen, hohen Gang. Niemand hat uns angesprochen oder gar versucht, uns aufzuhalten. Der Junge rennt die Treppe hinunter, und kurz darauf sind seine Schritte verklungen. Ich suche jetzt hektisch meinen kleinen Koffer, den ich hier irgendwo stehen gelassen hatte … Mir ist unheimlich, doch kurz darauf hat meine Suche Erfolg.

Auf dem Weg nach draußen komme ich noch mal in der Nähe der Aula vorbei. Die große Tür steht ein paar Handbreit offen, und ich sehe junge Männer, die regungslos in einer Blutlache liegen. Andere zucken und winden sich noch im Todeskampf, die schwarzen Polizisten regungslos neben ihnen stehend. In diesem Moment taucht drinnen eine Frau auf, offensichtlich eine Bedienstete der Einrichtung, sieht mich und wirft mir einen Blick unfassbarer Verachtung zu. Ich erschaudere bis ins Mark und mache, dass ich wegkomme. Erst als ich draußen auf der Straße ins Gewusel der nachmittäglichen Rush-Hour eintauche, beruhigt sich mein wie wild rasendes Herz, mein keuchender Atem.

Hier kommt nun der Titel meines kleinen Essays zum Tragen. Ja, ich bin eine Ratte. Einer von denen, die lieber leben wollen anstatt mit Lügen ehrenvoll überhäuft zu sterben. Denn heute entscheiden sich die weitaus meisten für Letzteres. Warum? Ich will hier mal ein paar Gedanken zusammenfassen, die ich bereits überall auf dieser Seite verstreut niedergeschrieben habe.

Wir alle werden als integre Menschen geboren – davon gehe ich aus. Mit »integer« meine ich, fähig zu Gefühlen und mit einem offenen Herzen, um es mal poetisch auszudrücken. Und mit einer Mitte aus Stille, die unser wahres Selbst ausmacht. Dann werden wir zugerichtet und verführt. Wie und mit was, hängt direkt mit den Umständen zusammen, in die wir hineingeboren wurden – mit unseren Eltern und den Menschen unserer Umgebung, aber auch der jeweiligen lokalen und übergeordneten Kultur, in der wir erschienen sind.

Diese Umgebung hat einen ganz zentralen Anteil daran, wie wir uns und die Welt sehen, wie wir uns und die Welt beurteilen. Dabei ist wohl entscheidend, welche Wertschätzung unserem Inneren, der Stille in uns, entgegengebracht wird. Das war schon seit jeher problematisch, da nur wenige darin überhaupt einen Wert sahen, ja es sogar (unbewusst) als ein wichtiges Ziel betrachteten, uns davon abzutrennen und sie als wertlos, gar verachtenswert darzustellen.

Seit ein paar Jahrzehnten nun läuft bereits ein Bewusstseinsprozess, der sich immer mehr ausweitet und inzwischen auch die Reste dieser inneren Stille weggewischt hat. Da es keine Wertschätzung für sie gab und gibt, sieht darin auch niemand ein Problem, ja begreift nicht mal ansatzweise, dass da was ganz Wichtiges verloren geht.

Im Gegenteil – je weiter sich jemand davon entfernt hat, desto größer die Chance, einen hohen Posten zu erreichen, die höchsten Weihen von sozialem Status zu genießen. Leonard Cohen sagte es in einem seiner späten Songs, »The Future«, so: »The blizzard of the world has crossed the threshold and it’s overturned the order of the soul.« (»Der Blizzard [ein extremer Schneesturm] der Welt hat die [kritische] Schwelle überschritten und die Ordnung der Seele abgeschafft.«)

Poesie ist oft »klarer« in den Dingen als Prosa – eben weil sie aus der inzwischen verpönten, ja regelrecht bekämpften Wahrnehmung der rechten Gehirnhälfte kommt und diese anspricht – für die ja Mehrdeutigkeiten selbstverständlich sind. Die also das Gegenteil ist von »Digital« – Alles oder Nichts, entweder – oder.

Wir distanzieren uns inzwischen kollektiv von unserer Mitte, von unserem tiefsten Inneren. Es ist uns wichtiger, uns als großartig, überlegen und wissend zu erleben, vor uns selbst und Anderen, denn mit uns selbst in Kontakt zu sein. An anderer Stelle schrieb ich schon mal, das Motto der Moderne könnte lauten: »Ich will mit mir nichts zu tun haben!« Will heißen, mit mir, dem Menschen mit seinen menschlichen Bedürfnissen. Na, ja, vielleicht als zierendes, moderiertes Versatzstück meines »besonders Seins«. Aber »einfach so«? Niemals! Es würde meine Allmachtsphantasien zerstören.

Leute wie der Bestsellerautor Harari warnen einerseits vor den Folgen dieser Entwicklung, uns immer mehr in diese Richtung zu »optimieren«, nur um sie praktisch im gleichen Atemzug als »Fortschritt« zu propagieren. Ja, er schwärmt sogar von Meditation. Doch Meditation ist einfach eine Methode, ein Werkzeug. Sie lässt sich wie ein solches ziemlich universell verwenden. Womöglich haben auch die Wissenschaftler meditiert, die die Atombombe bauten, um ihre Gedanken klarer und fokussierter zu machen. Ist er einer der derzeit vielen Star-Protagonisten, die vor einer Gefahr warnen, die sie gleichzeitig mitgestalten oder gar erzeugen? Die also Feuerwehrleute und Brandstifter in einer Person sind? Ich muss diese Frage so im Raum stehen lassen.

Nur »unoptimierte« Menschen, mithin quasi die »Ratten«, stehen »einfach so«, also absichtslos mit sich selbst in Verbindung, mit menschlichem Maß, mit der Erde, mit ihrer Endlichkeit, mit ihren Gefühlen. Sie sind daher die Unter-Menschen, im ganz wörtlichen Sinne. Wo alle Anderen sich wie Götter fühlen, sind die »Ratten« unten – auf, ja im Boden. Auf und ganz von dieser Welt, die jetzt die Götter der Götter nach ihrem Gusto aufteilen und gestalten wollen. Und das werden sie wohl auch schaffen, denn die überwältigende Mehrheit der Menschen sieht sich und die Welt inzwischen mit dem exakt gleichen Bewusstsein wie sie – sie sind somit das Problem und von sich selbst völlig überzeugte »Problemlöser« in einer Person. Nur eben alles ein paar Nummern kleiner. Und da heute alles digital, mithin eindeutig ist, sind sie natürlich alle Problemlöser, alle Retter der Welt…

Nachtrag 30.8.21 – Ich hatte ja an anderer Stelle schon mal darüber nachgedacht, was noch auf die »bösen Ungeimpften«, die »Pandemietreiber« zukommen könnte. Nun denkt man bereits laut über bestimmte Dinge nach, die mir auch schon kamen: Zum Beispiel einen »Lockdown« bzw. eine  Dauerquarantäne für Ungeimpfte … Die Verschwörungstheorie, das »Geschwurbel« von gestern ist die Tatsache von heute …

Noch was – 1.9.21. Ich habe eine Lieblingsgeschichte aus einer der Anthologien von phantastischen erotischen Geschichten, die beim Christine Janson Verlag erschienen sind. Darin geht es um einen LKW-Fahrer, der nach einer langen, eintönigen Fahrt über Land schließlich todmüde zu einem hell erleuchteten Rasthaus kommt – irgendwo mitten im Nirgendwo. Er ist froh, seinen Sattelzug dort parken und sich in seine Schlafkoje begeben zu können. Doch vorher soll es noch ein Absackerbier geben. So geht er rein und stellt fest, dass das nicht nur ein einfaches Rasthaus ist. Offenbar ist es auch die einzige Tanzbar weit und breit, voll mit vor Allem jungen Leuten aus der Gegend.

Als er etwas unsicher mit seiner Bierflasche herumläuft – unsicher, weil er da so ein komisches Gefühl hat –, sieht er auf einmal eine Frau, etwas jünger als er, die ihn erschrocken anstarrt. Sie ruft ihm etwas Warnendes zu, und gleich darauf rennt er mit ihr panisch in Richtung Hinterausgang. Noch während er läuft bekommt er mit, wie sich die Gesichter der Anwesenden in Krokodil- und Schlangenköpfe verwandeln und diese aufspringen und hinter ihnen herrennen. Er schafft es ins Freie, nur um kurz darauf von ihnen umzingelt zu sein …

Doch nun passiert etwas Seltsames, und er findet sich in wildem Lauf erst durch die Beine der Leute, dann länger über Stock und Stein getragen. Als er schließlich zu Boden plumpst und nach und nach wieder ganz zu sich kommt stellt er fest, dass die Frau ein Stück neben ihm im Gras sitzt und ihn angrinst. Sie ist nackt. Es dauert einen Moment bis er merkt, dass er genauso nackt ist wie sie. »Das war knapp! Ich musste uns verwandeln, sonst wäre es um dich geschehen gewesen. Nur so konnten wir entkommen«, meint sie schmunzelnd. »Mich verwandeln?« »Ja, in eine Ratte …«

Nun, die Geschichte geht noch sehr schräg und sehr sinnlich weiter, und die Beiden haben schon bald stellar guten Sex – denn sie ist mit ihm voll auf Augenhöhe. Und er genießt das. Die Geschichte hat zudem einen wunderbar anarchischen Subtext – für mich zumindest. Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten. Sie ist übrigens von einer Frau geschrieben …

Vorheriger Eintrag: Nächster Eintrag:
 

2 Kommentare zu »Ich bin eine Ratte, und das ist auch gut so«

  1. Ich bin gewissermaßen auch eine Ratte.
    Oder, eben…hmmm….sagen wir mal auf alles vorbereitet, was mir mein Gewissen, ganz tief im inneren auch manchmal übel mitspielt..;-)

  2. Ja, das Bild mit der »Ratte« ist so schön mehrdeutig. Und wie Du sicher schon gesehen hast, mag ich Mehrdeutiges und kann (inzwischen) ganz gut mit Ambivalenzen leben – auch mit meiner eigenen inneren »Ratte« …

Dein Kommentar