Samstag, 16. April 2016

Willkommen beim Schattenboxen

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Willkommen beim Schattenboxen

Was darf Satire? Diese Frage beschäftigte damals, in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren, schon Kurt Tucholsky – und natürlich seine erbittertsten Gegner, die Nationalsozialisten.

Nun bekommen wir diese Frage wieder mal aufgetischt. Jan Böhmermann, Satiriker mit eigener Sendung im ZDF, hatte offenbar auf den kleinen Eklat um das Spottlied über den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan mit einer weiteren Satire reagiert. Nachdem, was bekannt ist, wollte er wohl zeigen, wo die Grenzen von Satire liegen – der juristischen Grenze in diesem Land, wohlgemerkt.

Nach dem, was bekannt ist … Das muss ich so sagen, denn die fragliche Sendung wurde noch vor der Ausstrahlung aus der ZDF-Mediathek entfernt und natürlich auch nicht gesendet. So ist also ein Streit entbrannt über etwas, das nur eine winzige Minderheit wirklich kennt: Außer den bei der Aufzeichnung im Studio Anwesenden und einer Handvoll Leute, die die Sendung schon in der Mediathek angeschaut hatten weiß niemand, um was es wirklich geht. Das hätte ich aber schon gerne gewusst. Wie soll ich mir denn sonst eine Meinung zu dem Geschehen bilden?

Jetzt lese ich, dass die Bundesregierung ein Strafverfahren gegen Böhmermann zulässt. Nach Sachlage hat die Angelegenheit wohl gute Chancen, irgendwann vor dem Bundesverfassungsgericht zu landen. Frau Merkel sieht sich offenbar gezwungen, einen Eiertanz aufzuführen. Einerseits will sie, dass Herr Erdogan ihr die Flüchtlinge vom Hals hält, was dieser auch tut – selbst um den Preis eines möglichen Massakers, das gerade in der Luft liegt. Andererseits vertraut sie auf die Rechtsstaatlichkeit in diesem Land, die hoffentlich im Sinne des Grundgesetzes urteilen wird.

Immerhin solle der entsprechende Paragraf des Strafgesetzes (§ 103 StGb) demnächst abgeschafft werden, verkündete sie in ihrer kurzen Erklärung. Sie mahnte zudem die Einhaltung demokratischer Grundrechte in der Türkei an. Ist das also eine kluge, pragmatische Entscheidung?

Ich kann mich trotzdem des Eindrucks einer Appeasemant-Politik für einen immer despotischer werdenden Staatschef nicht erwehren, dessen Ambitionen in den letzten Jahren nur allzu offensichtlich geworden sind. Wo soll das hinführen? Darf Herr Erdogan demnächst hier Klage einreichen, dass man die Berichterstattung über ihn in Deutschland gefälligst »seinen« Leuten überlassen solle, denn alles andere empfände er als persönliche Beleidigung und Verleumdung? Wird das dann auch ernsthaft in Betracht gezogen, um ihn zu besänftigen?

Ich bin gespannt, wie das weitergehen wird. Willkommen in Gaga-Land. Willkommen beim Schattenboxen.

 

Nachtrag 17.4.16: Ja: »Wehret den Anfängen!« Dieses alte Sprichwort gilt wohl noch heute. In der physischen Welt wird es repräsentiert durch den unscheinbaren Spalt, die mürbe Stelle, die unvermittelt und für arglose Beobachter völlig überraschend den »großen Riss aus heiterem Himmel« verursachen kann. Worauf ich immer wieder stoße (und hier zu vermitteln versuche) ist eine Veränderung des Bewusstseins, der inneren Haltung, der Attitüde, die spürbar ist, lange bevor etwas Spektakuläres im Außen passiert. Georg Diez hat sich gerade in diesem Sinne geäußert: Die Böhmermann-»Affäre« wäre noch vor einem Jahr undenkbar gewesen. Man hätte Herrn Erdogans Missbehagen mal kurz zur Kenntnis genommen, und das wäre es gewesen. Doch die Entwicklungen der vergangenen sechs Monate und die damit verbundenen Entscheidungen haben die Bundesrepublik, haben die Demokratie erpressbar gemacht.

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