Montag, 21. Juni 2021

Die Fabrik

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Die Fabrik

Ich gehe raus und bin inzwischen oft der Einzige, der weder demonstrativ eine Sonnenbrille trägt oder sie als Klappvisier auf der Stirn bereithält. Der ohne Gedudel oder Gebabbel in den Ohren herumläuft. Der keine Maske unter dem Kinn oder am Handgelenk schlenkernd bereit hält.

Alle sind wahnsinnig stolz und sehen blendend aus, wirken wie dem Titelblatt eines Modemagazins entsprungen. Gewissermaßen lebend gephotoshopt. Ich erlebe eine praktisch völlig gleichgeschaltete Gesellschaft. Outfit und vor Allem Gehabe gleichen sich immer mehr an, ja scheinen regelrecht nach einer Handvoll Kategorien genormt. Und vor Allem eines ist ganz, ganz wichtig: Immer cool rüberkommen. Überlegen. Souverän. Alles unter Kontrolle. Voller Durchblick. Woke.

Alle sind hyperindividuell – besonders Sein ist alles. Natürlich gibt es immer neue Accessoires, Klamotten, Verhaltensweisen, die einen besonders machen, Tattoos, gefärbte Haare. Bei den Männern Bart und Baseballkappen. Und natürlich: die Masken. Am Besten überall tragen. Na ja, zumindest sichtbar griffbereit haben.

Mein Onkel ist nicht mehr unter uns. Vor vielen Jahren erzählte er mir mal eine Geschichte, über etwas, das er in New York gesehen hatte. Die drängt sich mir inzwischen immer heftiger auf. Sie ging so: Es muss irgendwann in den frühen achtziger Jahren gewesen sein. An einem schönen milden Abend war er unterwegs zu einer der »angesagten« schwulen Discos der Stadt. Als er hinkam, stellte er fest, dass es eine lange, lange Schlange gab. Sie ging vom Eingang der Disco bis zur nächsten Straßenecke, um diese herum und noch bestimmt hundert Meter weiter.

Nun, so was gibt es – bzw. gab es bis vor Corona – auch hier in Berlin. Das Besondere seien aber nicht die vielen Männer gewesen, die da alle rein wollten, sondern ihr Aussehen: Holzfällerhemd, Blue Jeans, Turnschuhe. Und kurze Haare. So gut wie alle. Und da, meinte er, hätte ihn doch glatt ein Gedanke beschlichen: »Irgendwo hier muss es eine Fabrik geben, die die herstellt.«

Und genau das ist es auch, was ich mich inzwischen frage. Wo ist diese Fabrik? Und wer bestimmt die »Ausführungen« der Hyperindividualisten, die dort in Großserie hergestellt werden?

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