Dienstag, 12. Mai 2015

»Stell’ dir vor …«

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»Stell’ dir vor …«

»Stell’ dir vor es ist Krieg, und keiner geht hin.« Die Älteren von uns kennen diesen Spruch aus den Siebziger Jahren sicher noch aus der Erinnerung, als die Friedensbewegung diesen Namen noch verdiente.

Wieso ich das so ausdrücke? Weil aus meiner Sicht der Spruch heute anders lauten müsste. Ganz aktuell müsste er meines Erachtens so heißen: »Stell’ dir vor es ist Krieg, und alle machen begeistert mit.«

»Krass?« Ja, vielleicht. Aber von welchem Krieg soll denn hier eigentlich die Rede sein? Um uns her ist doch alles friedlich, oder? Na ja, die Pegida-Leute … Nein, ich denke nicht an sie, und auch nicht an die jungen Dschihadisten aus Deutschland und ganz Europa, die auf mehr oder weniger verschlungenen Wegen in den nahen Osten fahren, um dort beim »Islamischen Staat« oder einer anderen islamistischen Gruppe mitzukämpfen. Es gibt da zwar bestimmt Zusammenhänge, aber um die soll es an dieser Stelle nicht gehen.

Ich spreche von einem Krieg, der bereits seit geraumer Zeit im Gange ist, hier bei uns und inzwischen zunehmend weltweit. Es ist ein Krieg, der immer erbitterter tobt, auch wenn ihn kaum jemand als solchen erkennt. Das hat damit zu tun, dass das, was da bekämpft wird, für die allermeisten keinen Wert hat. Für sie fühlt sich das alles nämlich wie ein frischer Wind an, der Altes ‘raus und Neues hereinweht. Gerade das macht das alles so surreal, so unwirklich, auch wenn die Auswirkungen dieses Krieges durchaus real, den weitaus meisten aber weder bewusst noch von Interesse sind. Das Gefühl, immer mehr Kontrolle zu haben und immer mächtiger zu werden macht sie blind für die Entwicklung, die da vor sich geht.

»Alle machen begeistert mit« – ja, wobei denn nun? »Wo laufen sie denn?« war ein geflügeltes Wort in den Achtziger Jahren, ein Zitat aus einem Loriot-Comic. Es meinte, jemand sei blind, würde vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen. Wo also ist der »Wald«?

Der »Wald« umgibt uns auf Schritt und Tritt. Wir saugen ihn ein, atmen ihn aus. Keiner macht sich Gedanken. Warum auch? Wir leben doch in der besten aller Zeiten, oder? Mit unglaublicher Geschwindigkeit werden wir immer höher nach oben katapultiert, werden in atemberaubendem Ausmaß größer und größer: In der Welt der Riesen ist ein ganz normaler Mensch ein Zwerg, Tendenz Däumling.

Also, welche Kriege führen wir da? Meine Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit:

Wir führen Krieg gegen die Stille. Erbarmungslos, unerbittlich. Wir bekriegen die äußere Stille genauso wie die innere – letztere vielleicht noch gnadenloser als erstere: Ein Innehalten ist undenkbar, würde als ultimative Niederlage empfunden. Weiter, weiter!

Wir führen Krieg gegen die Schönheit. »Schön« kann heute nur noch etwas sein, bei dem Menschen ihren Einfluss gehabt haben. Alles Rohe, Urwüchsige, Unfertige kann nicht mehr schön sein, geht bestenfalls noch als eine Art Folklore durch, über die man sich überlegen beömmelt. Denn merke: Es gibt keine Schönheit ohne Photoshop!

Wir führen Krieg gegen die Menschlichkeit. Alles wird nur noch in den Kategorien Sieger oder Verlierer, Überlegener oder Unterlegener gesehen. Ein Mensch als solcher ist nichts mehr wert, es sei denn, er bringt »Leistung«, hat »Erfolg« – und was das ist, definieren natürlich die Sieger. Wir sind zwar einst als Gruppenwesen entstanden. Das neue Ziel, das neue Bild ist allerdings das Konkurrenzwesen. Es ist Unternehmer in eigener Sache und geht wechselnde Zweckbündnisse ein, ist aber nur sich selbst und seinem eigenen Erfolg verantwortlich.

Wir führen Krieg gegen unsere Welt. »Umweltschutz« ist fast immer nur ein Deckmäntelchen, bedeutet nichts. In Wirklichkeit zählt allein die Profitmaximierung, die Effizienz der Ausbeutung der Ressourcen. Nach uns die Sintflut!

Wir führen Krieg gegen das menschliche Maß. »Durchschnittlich« zu sein hat heute keine Chance mehr. Nur das Besondere, das Außergewöhnliche zählt. Und so bemühen sich Milliarden Menschen beinahe schon erbittert darum, außergewöhnlich zu sein. Seltsam nur, dass das Spektrum dessen, was als »außergewöhnlich« gilt, qua unausgesprochenem Konsens festgelegt zu sein scheint. Und dass so vieles »Außergewöhnliche« käuflich ist …

Wir führen Krieg gegen die Demut. Demut vor dem Leben, der Schöpfung ist uns fast völlig abhanden gekommen. Sie ist etwas von gestern, ein Anachronismus. Heute prägt der Mensch alles, was geschieht. Ist selbst Gott und duldet keinen anderen Gott neben sich. Nichts, was nicht unseren Stempel aufgedrückt bekommen hat ist von irgendeiner Bedeutung.

Wir führen Krieg gegen das bei sich Sein. Still sein, einfach nur da sein, niemanden und nichts »darstellen« (danke deutsche Sprache für diese wunderbare Doppeldeutigkeit!) – das geht gar nicht. Das ist schlicht undenkbar. Ich sehe zunehmend Kleinkinder, die bereits »jemand sind«. Es werden schnell mehr, und sie werden immer jünger. Sehr bald schon wird »jemand sein« für die große Mehrheit der kleinen Kinder selbstverständlich sein. Bei sich Sein dürfte daher in naher Zukunft wohl als Geisteskrankheit betrachtet werden.

Wir führen Krieg gegen alles wirklich Spielerische – ich muss das so ausdrücken, denn unter »Spiel« verstehen wir heute nur noch ein geregeltes Kräftemessen. Etwas, das eine Funktion hat und Sieger von Verlierern trennt. Alles wahrhaft Spielerische, Ungeplante, Unkontrollierte, Unsichere und Undefinierte ist uns hingegen ein Graus. Nun ist aber Lust genau darauf angewiesen … Was daraus folgt, nehmen die weitaus meisten dabei offenbar in Kauf.

Wir führen Krieg gegen das gesammelt Sein. Permanente Ablenkung durch Medien und »Multitasking« sind heute schon die Regel. »Sich in etwas vertiefen« – dieser Ausdruck wird zusammen mit dem aussterben, für das er steht.

Wir führen Krieg gegen die Realität. Krankheit, Alter, Vergänglichkeit, Unvollkommenheit – all das hat keinen Platz mehr in unserer Welt. Es ist also nur konsequent, dass Kranken- und Altenpflege zu den Berufen gehört, die am wenigsten gelten und die mit am schlechtesten bezahlt werden.

Wir führen Krieg gegen unsere Gefühle. Nur die Gefühle, die wir fühlen wollen, dürfen da sein. Alle anderen haben bitteschön in der Versenkung zu verschwinden: Optimistisch und »gut drauf« Sein ist heute so wichtig wie seine EC- oder Kreditkarte in der Tasche zu haben. Wer es in der Öffentlichkeit nicht ist, gilt schnell als inakzeptabel. Notfalls lässt sich aber hier auf chemischem Wege »optimieren«. Dumm nur, dass sich unsere Gefühlswelt nicht so einfach wie eine Maschine unserem Willen unterwirft, und dass sie nach einem »Alles oder Nichts«-Prinzip funktioniert: Was wir an einem Ende beschneiden, fehlt uns auch am anderen …

Wir führen Krieg gegen unser tiefstes Sein. Immer und in jeder Situation überlegen zu sein, souverän und Souverän, und niemals unsicher, verlegen, ängstlich. Das ist das Ziel, das große Ideal. Mit einem Wort: Es geht darum, cool zu sein. Dieses Wort ist nicht umsonst zeitgleich mit der Durchdringung der Gesellschaft mit neoliberalem Gedankengut populär geworden. Ich erinnere mich noch vage, dass es vor über vierzig Jahren mal hieß: »Werde der, der du bist.« Irgendwann dann hieß es: »Werde der, der du sein willst.« Das steht für eine völlig andere Weltsicht und bringt den Paradigmenwechsel gut auf den Punkt.

Vielleicht ist jetzt zumindest ansatzweise klar geworden, auf was ich hinaus will: Die »Front« dieses Krieges ist im Außen nur teilweise sichtbar, denn sie befindet sich in unseren Köpfen und Herzen. Gleichwohl bin ich sicher: Die Folgen sind sehr real. Wollen wir diesen Weg wirklich gehen? Wenn ich mich umschaue, dann wird mir klar: Die meisten haben sich bereits entschieden, und für eine immer größere Zahl von Menschen ist diese Entscheidung endgültig.

Ach, noch so ein Sprichwort: »Wer Wind sät, wird Sturm ernten.«

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4 Kommentare zu »»Stell’ dir vor …««

  1. Lieber Claus,

    Dein Beitrag aktiviert in mir ein tiefes Hineinspüren.

    Ja, so empfinde ich es auch. Es fällt mir nur noch nicht so sehr auf, weil die Menschen meiner Umwelt weitgehend noch „vom alten Schlage“ sind und weil ich so medienabstinent lebe.

    Ich freue mich in unserem Miteinander immer wieder über den Frieden, den wir weitgehend in unseren Herzen tragen und bestimmt auch wahren können. Ich spüre viel Kraft in der Richtung.

    Herzliche Grüße,

    Eberhard

  2. Lieber Eberhard,

    »mit Menschen vom alten Schlage« zusammen zu sein ist für mich zunehmend wichtig und sehr nährend. Nährend auf einer seelischen Ebene. Ich finde es nur schade, dass auch viele von den Älteren (meist sind es Ältere, die mich so nähren können, aber nicht nur) versuchen, sich dem Zeitgeist anzupassen anstatt etwas entgegenzusetzen – oder sollte ich gleich sagen: bei sich zu bleiben?

    In diesem Zusammenhang möchte ich die Frage mal öffentlich stellen, die mich schon länger beschäftigt: Was bedeutet es, heute jung zu sein? Ich habe keine Antwort darauf, und mögliche Antworten könnte nur ein tiefer Austausch zwischen jungen und älteren Menschen geben. Samt Erkenntnisgewinn für beide Seiten …

    Ich wünsche uns allen einen Weg zu Frieden und Stille – mit und in uns selbst. Dann wäre eine wichtige Voraussetzung für einen wirklichen Paradigmenwechsel geschaffen. Ja, vielleicht sogar die Grundvoraussetzung. Dann hätten wir die Chance, das ewige »Der König ist tot, es lebe der König!« hinter uns zu lassen. Weltweit …

    Just imagine. Ja, ich denke da gerade an das Lied von John Lennon.

    Claus

  3. Lieber Arnd,

    ja, das kommt aus der Bibel. Obwohl mir bewusst ist, wie viele verschiedene Leute an diesem »Buch Gottes« mitgeschrieben haben und wie viele unterschiedliche Strömungen sich darin vermengen, so finde ich dieses Zitat dennoch »biblisch poetisch«. Eine weitere Wendung, die aus der Bibel stammt und die mir besonders gefällt ist »sie erkannten sich« als eine Beschreibung für »sie hatten Sex miteinander«.

    Claus

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