Dienstag, 2. Juni 2015

Der Sex des 21. Jahrhunderts

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Der Sex des 21. Jahrhunderts

Was bedeutet Sex im 21. Jahrhundert? Im Zeitalter der Coolness, der Allgegenwart des Internets und der totalen Verfügbarkeit von Pornografie? Im Zeitalter der (Selbst-) Optimierung, der unbedingten Zielgerichtetheit, des permanenten Strebens nach Höchstleistungen? Von Viagra und einer Turbo-Geilheit, die nicht mal vor Geiz halt macht?

Was ich jetzt ansprechen werde, stützt sich einzig und allein auf persönliche Eindrücke und meine Erfahrungen im allernächsten Umkreis sowie mit mir selbst. Ich weiß zur Zeit von keiner wissenschaftlich fundierten Untersuchung, die sich mit der Frage beschäftigen oder gar meine Gedanken und Eindrücke bestätigen würde. Wem das also zu subjektiv, vage und abgehoben ist, mag sich an dieser Stelle Wichtigerem zuwenden und zur Tagesordnung übergehen.

»Lust und Leistung gehen nicht zusammen«, brachte es einer meiner Mentoren vor vielen Jahren mal auf den Punkt. Dem kann ich voll zustimmen, denn zumindest für mich funktioniert das nicht: Wenn ich mich anspanne und voll bin von »Wollen«, dann wird es für mich schwierig, Lust zu empfinden. Ich mag vielleicht noch »performen«, doch meine Lust würge ich damit regelrecht ab. Zwar konnten etliche Männer, die ich im Laufe meines Lebens kennengelernt habe, aus ihrem »aktiv und aggressiv Sein« für sich eine Form von Selbstbestätigung ziehen, die sie auch sexuell erregte. Solange sie in dieser Rolle bleiben konnten, war für sie der »Treibstoff« für sexuelle »Performance« vorhanden. Bei mir funktioniert das allerdings leider – oder zum Glück? – überhaupt nicht.

Nun, wie es scheint, bin ich zumindest in dieser Hinsicht kein »richtiger Mann« – also, innerlich zumindest nicht. Das bekommen viele Männer, vor allem die aus dem arabischen Kulturkreis, offenbar sofort mit, und sie behandeln mich dann (oft) entsprechend – das geht von kleinen Respektlosigkeiten im Umgang miteinander bis hin zu offenen Pöbeleien, die ich nicht mal verbal verstehen muss, um zu begreifen, wohin sie zielen.

Gut, diese Männer »funktionieren« einwandfrei; sie sind, zumindest nach ihren eigenen Maßstäben, »richtige« Männer. Aktiv-aggressiv zu sein und sexuelle Erregung sind bei ihnen »miteinander verlötet«, wie Klaus Theweleit das in seinem bekannten Buch »Männerphantasien« formulierte. Können sie hingegen mit dieser Rolle nicht »landen«, geht bei ihnen nix – es törnt sie völlig ab. Ihnen bleibt nur eine frustrierte Aggressivität, um sich weiterhin als Mann zu beweisen.

Und können sie als »richtige Männer« wirklich Lust empfinden? So richtig intensiv, so sehr, dass ihnen alle Männlichkeitsideologie zumindest für Momente aus dem Kopf gepustet wird? Meine Beobachtungen sprechen dagegen: Der Machtkick im Augenblick des Abspritzens scheint mir bei ihnen sehr viel intensiver zu sein als die Lust, die sie dabei empfinden. Das Internet ist voll von Videos, in denen die weitaus meisten Männer im Moment ihres Höhepunktes (und in der Regel auch schon davor) kaum eine Miene verziehen, ja sogar regelrecht abwesend wirken, so als hätten sie mit alldem überhaupt nichts zu tun. Und selbst wenn es sich hier oft um Profi-Produktionen handeln mag – die Vorbildfunktion ist vor allem für junge Männer kaum zu unterschätzen: Meine persönlichen Beobachtungen sprechen klar dafür. Und all das betrifft auch, wie ich inzwischen den Eindruck habe, nicht mehr überwiegend die Männer.

Selbstbeobachtung. So lange ich noch eine Vorhaut hatte, konnte ich es forcieren, zum Höhepunkt zu kommen: Mehr Reibung war gleich mehr Reiz, war einen Gang hochschalten auf dem Weg zum »Ziel«. Doch ich habe nun schon länger keine mehr. Seitdem stimmt diese Gleichung nur noch sehr bedingt: Zumindest ab einem bestimmten Punkt komme ich jetzt nur noch weiter, wenn ich mich fallen lasse, mich in meine Lust hineinfallen lasse, statt mich anzustrengen. Das Problem dabei: Mich fallen zu lassen habe ich nie gelernt. Mich anzuspannen aber von klein auf.

Über die vielen Jahre lernte und lerne ich jetzt nach und nach, mich mehr und mehr fallen zu lassen – also etwas zuzulassen, das mir und wohl Allen in die Wiege gelegt wurde. So wie ich es empfinde, ist meine Lust dadurch sehr viel intensiver geworden – auch und gerade die Lust, die ich fühle, bevor ich »so weit bin«. Natürlich kann das auch mit dem Älterwerden zu tun haben, damit, dass sich meine Bedürfnisse geändert haben. Wie gesagt, das sind alles sehr subjektive Erfahrungen. Doch wenn ich so mitbekomme, wie unbeteiligt viele – und beileibe nicht nur Männer – ihre Lust und Erregung regelrecht »abhandeln«, dann macht mich das schon nachdenklich. Sex scheint zu einer Art Leistungssport verkommen zu sein, in dem man »performt« wie in der Muckibude an den Geräten. Hat das noch viel mit Lust zu tun? Ich habe da so meine Zweifel.

Doch offenbar scheinen die weitaus meisten mit diesem Zustand zufrieden zu sein – zumindest erwecken sie nach außen hin diesen Anschein: Sie platzen geradezu vor Selbstzufriedenheit und Optimismus. Okay – »gut drauf sein« gehört heute so selbstverständlich dazu wie das Smartphone in der Hand. Alles, was ich so mitbekomme nährt allerdings meinen Verdacht, dass beides bestenfalls zu einem kleinen Teil auf wirklich guten, tief nährenden und lustvollen Sex zurückgeht: Es muss dafür noch einen anderen Grund geben. Etwas, das in puncto Befriedigungsfaktor mindestens genauso gut, wenn nicht besser »kommt« als Sex.

Was könnte das sein? Die Mimik der Gesichter, die sich über die kleinen Bildschirme beugen, oder die sich auch einstellt, wenn eines dieser kleinen Geräte ans Ohr geführt wird – es hat etwas Rauschhaftes, eine Art stillen Siegestaumels. Der Ausdruck einer geradezu königlichen Zufriedenheit stellt sich ein. Etwas, das sich bei mir wohl bestenfalls nach gutem Sex, egal ob mit oder ohne Höhepunkt, auf meinem Gesicht zeigen würde. Das muss es sein! Ich habe den Sex des 21.Jahrhunderts entdeckt!

Für mich persönlich fühlt es sich allerdings richtig gut an, loslassen zu können und in einen Zustand einzutauchen, der mir verschlossen bliebe, würde ich am »mir« festhalten. Das schaffen analoge Nahfeldkontakte: in echte Augen zu schauen, richtige Haut an meiner zu spüren, mich in den Lippen meines Partners zu verlieren. Gut, die dabei erzielte Leistung mag aus neoliberaler Sicht lächerlich gering sein, die »Performance« nicht der Rede wert. Und gut aussehen tue ich dabei auch nicht unbedingt. Und doch: Jaaa! Mmmmh!

Denn guter Sex ist für mich etwas, das nach wie vor heiß, »hot« ist. Alle, die es cool, also kalt mögen, haben ja auch etwas davon: Sie behalten die volle Kontrolle und bleiben in der selbstgewählten Rolle. Und beinahe im Wochentakt erscheinen inzwischen irgendwelche neuen, angesagten Kicks, die dieses Gefühl von Kontrolle und Macht weiter wachsen lassen – den Sex des 21. Jahrhunderts.

 

Nachtrag 15.10.15: Der Zustand der Ermächtigung, des »Ich bin jemand!«, ist die Religion des 21. Jahrhunderts. Selbst diese Kontrolle aufzugeben, also zum Beispiel Drogen zu nehmen, muss (muss!) unbedingt als deine Entscheidung sichtbar und erkennbar sein. Auf diese Weise kann etwa »Komasaufen« durchaus in diesen Rahmen hineinpassen.

So erklärt sich, wieso jemand, der oder die dies nicht schafft (oder schaffen will), in der Gunst der anderen, der optimierten Menschen, abstürzt wie ein fallender Stein. Welche »Credibility« hat schon ein König oder eine Königin, der bzw. die ihr »Reich« offensichtlich nicht unter Kontrolle hat?

Nachtrag 4.6.17: Dieser Artikel ist zwar fast so alt wie dieser Erguss oben, doch ich habe ihn eben erst gelesen. Sascha Lobo glaubt zwar grundsätzlich an die Technik (was sicher, aber nicht nur, auch eine Altersfrage ist), doch hier im Artikel äußert er erste Zweifel. In seinen späteren Kommentaren scheint mir seine Skepsis eher noch gewachsen zu sein.

Nachtrag 12.1.18: Nun hat die Coolness, der unbedingte Wunsch nach Kontrolle und Souveränität auch den Tod erreicht. Beim Guardian las ich heute einen Artikel über einen schnell wachsenden Wirtschaftszweig, der dieses Bedürfnis des modernen Menschen auch in den Tod hinein ermöglichen soll. »Du kannst nicht einfach so sterben – sondern du musst zeigen, dass du auch im Tod noch alles unter Kontrolle hast, so wie in deinem Leben.«

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