Dienstag, 17. Mai 2011
Für Andreas
Für Andreas
Mein Mitbewohner Rainer hatte ihn mitgebracht, einen großen, schlaksig-blonden Mann mit Lockenkopf, vielleicht zehn Jahre jünger als ich. Einmal sah ich ihn von hinten durch die offene Badezimmertür, als er sich duschte. Er wirkte irgendwie zerbrechlich, obwohl er gar nicht so schmal war. Einer der vielen »gefallenen Engel«, die in Berlin mehr oder weniger auf der Straße lebten. Schon in diesem Moment muss etwas in mir passiert sein.
Wochen später kam ich abends nach Hause; alles war still, und erst dachte ich, es sei niemand da. Doch etwas ließ mich in das mittlere Zimmer schauen, das größte der Wohnung, mit Stuckdecke, altem Parkettboden und einem halbrunden Erker aus Fenstern, von denen aus man ein Stück des Mauerstreifens überschauen konnte.
Da saß er auf dem Boden wie ein großer Junge, und vor ihm auf einem Blatt Papier auf dem Teppich lag ein ordentlicher Haufen Streichhölzer – unbenutzte, wie ich gleich sehen sollte. Gerade als ich hereinschaute machte er Anstalten, diesen ganzen Haufen anzuzünden.
Wie eine Furie muss ich auf ihn zugesprungen sein, wohl irgendwas wie »Scheiße, willst du uns die Bude abbrennen?« gebrüllt haben. Er ließ die Streichhölzer fallen und sprang auf. Wir schrien uns an. Mein »Ich will, dass du gehst, jetzt sofort!« trieb ihn aus dem Zimmer. Wir landeten im Flur, ein Wort gab das andere, und dann gingen wir aufeinander los. Jeder erwischte den anderen am Handgelenk, und aufeinander einbrüllend rangen wir miteinander.
Dann auf einmal: Schnitt. Es war, als hätte ein unsichtbarer Regisseur »Cut!« gerufen. Wir hörten auf zu schreien, schauten uns an und ließen uns los. Ein warmes Gefühl durchströmte mich, und ich sagte etwas wie »Magst du mitkommen in die Küche, ich mache uns einen Tee.«
Wir saßen zusammen am Küchentisch, vor uns stieg etwas Dampf aus den Teetassen. Kerzen spendeten ein schönes Licht. Wir redeten, und ich fand ihn wunderbar klar und präsent, sehr offen und persönlich. Da war eine Zuneigung zwischen uns, die ich noch kurz vorher für unvorstellbar gehalten hätte. Ich konnte seine Sehnsucht und sein verletzt Sein spüren, und er wohl das gleiche bei mir. Etwas Zartes, Warmes stand im Raum, und ich fühlte mich sehr dankbar. So wie die Dinge sich entwickelten, lief alles darauf hinaus, dass wir die Nacht miteinander verbringen würden.
Doch dazu sollte es nicht kommen. Ich hörte, wie die Wohnungstür ins Schloss fiel, und dann kam Rainer in den Raum hineingeplatzt und fuhr den schönen Mann mir gegenüber an: »Was, du bist noch da? Verschwinde, ich will Dich nicht mehr sehen!« Das war eine völlig andere Energie als das, was sich gerade zwischen uns entwickelt hatte, und dieser Wirbelsturm überrumpelte ihn und mich gleichermaßen. Ehe ich mich’s versah, war er fort, fast wie ein Hund, den man hinausprügelt. Und als mir erst nach Minuten klar wurde, dass ich ja hätte sagen können, dass er nun mein Gast sei, war es zu spät.
Ich sah ihn erst Monate später wieder, zusammen mit einer Freundin im Görlitzer Park, doch da waren wir beide wieder woanders. Die Magie dieses Moments ließ sich nicht zurückholen.
Wir sind uns nie wieder begegnet.