Samstag, 23. April 2011

Gleichgeschlechtliche Sexualität und Spiritualität – ein Widerspruch?

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Gleichgeschlechtliche Sexualität und Spiritualität – ein Widerspruch?

Vor einigen Tagen schnappte ich eine Meldung aus dem Radio auf, die mich nachdenklich machte.

Zunächst dachte ich, es sei ein verfrühter Aprilscherz, doch eine kleine Internet-Recherche brachte Klarheit: Es gibt tatsächlich eine neue Gandhi-Biographie von Pulitzer-Preisträger Joseph Lelyveld, der lange für die New York Times tätig war.

In dieser beschreibt Lelyveld die innige Freundschaft zwischen Gandhi und dem deutsch-jüdischen Architekten Herman Kallenbach während Gandhis Zeit in Südafrika. Der Autor bringt intime Auszüge aus Briefen der beiden aneinander, enthält sich aber jeglicher Interpretation des Zitierten. Er verwahrt sich deshalb auch vehement gegen Anschuldigungen vor allem von indischer Seite, er würde Gandhi auch eine sexuelle Beziehung zu Kallenbach unterstellen.

Was mich hier vor allem antickt, ist weniger die Frage, ob die beiden ihre tiefe Freundschaft auch auf körperlicher Ebene lebten, sondern eher die Reaktionen darauf, dass Gandhi überhaupt mit einer solchen Möglichkeit in Verbindung gebracht wird.

Mahatma Gandhi, die »große Seele Gandhi«, wäre in diesem Falle offenbar in den Augen vieler Inder (und wohl nicht nur der Inder) »besudelt«, alleine von dem Gedanken, der Vermutung, es könnte so gewesen sein. Geradezu folgerichtig ist daher, dass dieses Buch nun bereits in einem indischen Bundesstaat verboten wurde. Weitere werden womöglich diesem Beispiel folgen.

Nun, das alles ist angesichts des schleichenden Atom-GAUs im japanischen Fukushima und des Bürgerkrieges in Lybien von eher nebensächlicher Bedeutung, oder etwa nicht? Für mich wirft dieses kleine Geplänkel am Rande aber ein Schlaglicht auf ein Thema, von dem ich glaube, dass nur eine winzige Minderheit der Menschen es in seiner Tragweite überhaupt erfasst: das, was als »rein« und das, was als »unrein« gesehen wird, mithin das, was als »heilig« und das, was als »profan« gilt. Daraus folgt natürlich direkt das, was als »normal« und »schicklich« und das, was als »unnormal« und verwerflich gilt. Diese hierzulande manchem vielleicht eher nebensächlich erscheinenden Zuordnungen bedeuten aber offensichtlich etlichen Menschen unendlich viel. In religiöser Hinsicht äußern sie sich zum Beispiel wie die jüngsten Reaktionen auf die provokative Verbrennung eines Korans in einer amerikanischen Kirche: Bei den darauf folgenden Unruhen in Afghanistan und Pakistan kamen etliche Menschen ums Leben.

Interessant ist, dass zumindest in patriarchalen Gesellschaften Sexualität explizit (oder wie bei uns eher unbewusst) als »unrein«, als eine Art lustvoll-notwendiges Übel gesehen wird. Die einzige geduldete Ausnahme davon ist die Sexualität zwischen Mann und Frau, da sie ja dem Mann Nachkommen bringt. Alles andere gilt zumindest offiziell als »Pfui«. Und selbst der geduldete Teil der Sexualität ist in fast allen Teilen der Welt strengen Regeln unterworfen, die meist von Männern gemacht wurden.

»Alle Spiritualität kommt aus den Lenden« meinte vor vielen Jahren einmal ein Freund und Lehrer, und je älter ich werde, desto mehr finde ich, es bringt etwas auf den Punkt. Sexualität ist die Kraft, die Energie, die jeden von uns und den überwältigenden Teil dessen, was uns umgibt, hervorgebracht hat. Ja, vielleicht stellt sie sich ja als die letztendliche Ur-Kraft des Lebens überhaupt heraus, gar als die Essenz von Allem-was-ist …

Das so zu sehen lässt nur einen Schluss zu: Wenn Sexualität die göttliche Energie ist, durch die sich alles manifestiert, dann bedeutet unsere Haltung zur Sexualität eine Abkehr davon, eine Ignoranz elementarster Art. Mir kam mal der Satz »Sex ist die Lust des Lebendigen auf das Lebendige«. Welche Form ist davon nicht betroffen? Folgerichtig nach den oben dargelegten Überlegungen weitergedacht, würde das bedeuten, dass für Männer Frauen (bedingt) lebendig sind und Männer für Frauen, dass aber Männer für Männer tot sind und Frauen für Frauen (na ja, aus Sicht der meisten Männer ist eine Frau gut, zwei Frauen sind besser).

Obwohl wir über vieles im Leben unserer Mitbewohner des Planeten erst ansatzweise Bescheid wissen, hat die biologische Forschung des 20. Jahrhunderts vor allem in den vergangenen 40 Jahren immerhin eine Menge an Fakten zusammengetragen, die unser menschliches Verhalten in einem ganz eigenen Licht erscheinen lassen – vergleicht man es mit den Gepflogenheiten der restlichen, vor allem aber der höheren Tiere um uns. Bruce Bagemihl, der Autor des 1999 erschienenen Buches »Biological Exuberance« (St. Martins Press, New York 1999) zum Thema gleichgeschlechtliches Verhalten im Tierreich, brachte es so auf den Punkt: »Der Mensch ist die einzige Spezies, die Homosexualität als etwas Abnormes betrachtet.« Dazu gibt es einen Artikel in der Zeit und bei der NZZ.

Wenden wir uns wieder Gandhi und Kallenbach zu – wir könnten stellvertretend zum Beispiel auch Rumi und seinen Freund Schamsuddin betrachten, denn hier liegen die Dinge wohl ähnlich. Auch dort werden die Überlieferungen, die auf eine explizite körperliche Ebene der Freundschaft der beiden hinweisen, systematisch verdrängt und gar geleugnet.

Was, wenn diese Erfahrung auch der körperlichen Liebe zwischen den Freunden nicht ein »Ausrutscher« war (so man sie denn überhaupt als eine gleichgeschlechtliche Liebeserfahrung akzeptiert und nicht von vorne herein verdrängt oder ignoriert), sondern eine, die eine zentrale Bedeutung gehabt hätte für die Personen, die sie hatten? Die womöglich erst die Türen für die menschliche Größe ganz öffnete, zu der Gandhi (und auch Rumi) fähig waren? Vielen mag dieser Gedanke vielleicht abwegig, womöglich sogar gefährlich erscheinen. Ich will ihn hier aber doch einmal genauer anschauen, gerade aus meiner eigenen Lebenserfahrung und –Geschichte heraus.

Meine eigene (sexuelle) Geschichte habe ich mit Beziehungen zu meinem eigenen Geschlecht angefangen. Meine erste große Liebe war ein anderer junger Mann, als ich selbst Anfang zwanzig war, eine »Liebe auf den ersten Blick«. Ich erinnere mich noch an die aufgewühlte Ambivalenz meiner Gefühle – einerseits ging für mich eine lange gehegte Sehnsucht endlich in Erfüllung, andererseits bedeutete das in diesem Moment für mich, nun mit Frauen nichts mehr zu tun zu haben. Dazu muss ich sagen, dass es bei mir weder Ekel oder Aversionen gegen Frauen gab, in meinem Fokus waren halt andere Jungen und Männer. Ja, ich hatte sogar bis kurz bevor ich meinen ersten Freund kennen lernte wesentlich mehr Erfahrungen mit Frauen als mit Männern. Es folgten mein schwules Coming-Out und einige wilde Jahre – ich hatte das Glück, dass AIDS erst etliche Jahre später eine Rolle zu spielen begann. Schon während dieser Zeit spürte ich, dass es auch weiterhin Frauen gab, die mich anzogen, und so »ergab« sich nach Jahren mit Männern meine erste Freundin schließlich quasi von alleine.

Diese innere Balance ist bis heute im Grunde so geblieben, und ich hatte inzwischen auch einige langjährige Beziehungen mit Frauen, die ich beglückend fand – auch auf sexueller Ebene. Neulich sagte ich auf eine diesbezügliche Frage hin, es seien für mich zwei Aspekte ein und desselben Festes, wenn ich mit einem Mann, und wenn ich mit einer Frau Sex habe. An dieser Stelle muss ich noch eine kleine Anmerkung loswerden – bevor vielleicht Missverständnisse aufkommen: So wie ich es empfinde, ist alles, was bei einer sinnlich-sexuellen Begegnung zwischen zwei Individuen geschieht, eins. Anscheinend spielt ja für Viele, vor allem Männer, letztlich nur das Kriterium »Penetration« eine Rolle – also Schwanz in Möse oder Schwanz im Arsch. Das ist sicher ein Aspekt, bestimmt auch ein wichtiger aus der Sicht des Erlebens, doch für mich ist es einer unter mehreren. Irgendwann kam mir mal der Satz »Guter Sex ist das, was vor dem Abspritzen passiert.« Klar, ein toller Höhepunkt ist mindestens das Sahnekleckschen obendrauf, doch das, was für mich eine sinnlich-sexuelle Begegnung ausmacht, ist das »Vorher«. Und das ist aus meiner Wahrnehmung immer so, egal, ob ich mit einem Mann zusammen bin oder mit einer Frau.

Vielleicht ist ein Schlüssel dazu so etwas wie die Vermählung (oder besser Verschmelzung) von Schwanz und Herz, respektive von Möse und Herz, wie es oben schon einmal erwähnter Freund und Lehrer ausgedrückt hat. Obwohl dieses Bild auch missverstanden werden kann, trifft es für mich etwas Wichtiges auf den Punkt. Denn das, was ich für einen männlichen Partner sein kann, hat sehr viel mit dem zu tun, was ich aus Begegnungen mit Frauen gelernt habe. Und das, was ich in einer Begegnung mit einer Frau sein kann, hat unmittelbar damit zu tun, welche Erfahrungen ich mit Männern gemacht habe. »Lernen« hat hier für mich weniger etwas mit Sexpraktiken denn mit einem kaum zu beschreibenden Gefühl von »Ganz sein« zu tun, von »in mir zu Hause sein«. Auch das ist nur eine Umschreibung, denn so wie ich das sehe, versuche ich hier von so etwas wie »Bewusstsein« zu sprechen, doch ich fürchte, schon alleine der Versuch ist zum Scheitern verurteilt.

Was ich aber rückblickend sagen kann ist, dass sich mein Blick auf meine Mitmenschen stark verändert hat, ja ich gehe so weit zu sagen dass sich mein »Weltgefühl« dadurch verändert hat. Natürlich spielt auch meine übrige persönliche Geschichte dabei eine sehr wichtige Rolle, doch es war für mich so etwas wie ein folgerichtiges Voranschreiten und ein Katalysator zugleich. Dass das nicht nur mir so geht, habe ich in verschiedenen Gesprächen herausgefunden.

Schön wäre es natürlich, wenn diese Entwicklung ein allgemeiner Lernschritt für alle würde. Das ist nun allerdings (leider!) nicht so, wie ich sehr oft feststellen musste. Offenbar hängt es stark vom Selbstbild und der Weltsicht des Einzelnen ab (egal ob Mann oder Frau), ob gleichgeschlechtliche Erfahrungen Horizonte öffnen können oder nicht. Welche Dispositionen das im Einzelnen sein könnten, kann ich nur vermuten. Oft steht auch schlichtweg die Angst im Wege, die eigene Identität als »normaler« Mann oder »normale« Frau zu verlieren. Eine Ex-Freundin meinte dazu mal, sie hätte schon öfters eine starke Anziehung zu anderen Frauen gespürt, doch diese Intensität, die sich da andeutete, hätte ihr Angst gemacht. So hätte sie sich weitere Neugierde in dieser Richtung verkniffen. Wenn ich mir anschaue, wie lange ich gebraucht habe, um an diesen Punkt des Annehmens, ja Wertschätzens meiner eigenen Erfahrungen zu kommen, dann habe ich eine leise Ahnung, wie sehr dies für Männer eine Rolle spielen könnte. Vor allem, weil ein Mann gesellschaftlich gesehen auch heute noch (oder wieder?) wesentlich mehr zu verlieren hat als eine Frau, sollte er diesen Gefühlen nachgeben. Hier gehen meines Erachtens bei uns Männern gesellschaftlicher Druck und wohl auch gewisse genetische Dispositionen eine unheilvolle Allianz ein. Und auch gleichgeschlechtlich liebende Menschen wehren in den meisten Fällen die Möglichkeit ab, durch ihr Erleben »herauszutreten« aus wie mit der Muttermilch eingesogenen Überzeugungen: Sie versuchen krampfhaft, so »normal« wie möglich zu erscheinen, ja sogar oft noch »normaler« als die »Normalen« …

Nehmen wir also einmal an, dass die lust- und liebevolle (!) Erfahrung des eigenen Körpers im anderen, die Begegnung mit meinem körperlichen »Spiegelbild« mich dann, wenn ich dafür offen bin, tief bereichern, mein Herz für die Welt weiter öffnen kann. Dann wäre es keineswegs absurd zu glauben, dass für Gandhi (und Rumi und viele andere) die tiefe Erfahrung der Begegnung mit dem Geliebten ein wichtiger innerer Schritt auf seinem Lebensweg war. Ja, eine Erfahrung, die es ihm vielleicht erst ermöglichte, »die große Seele Indiens« zu werden. Gewaltlosigkeit im Sinne Gandhis hat auch viel mit Hingabe zu tun, mit einer Hingabe, die aus tiefem innerem Wissen und der Offenheit des Herzens kommt.

»Bei Dir ankommen«, »eine Heimat im Körper finden« – die liebevolle Unmittelbarkeit der Begegnung mit deinem leiblichen Spiegelbild kann dir dabei, so wie ich das sehe, unschätzbare Dienste leisten. Doch sie stellt die Herausforderung an dich, die Erschütterung und Veränderung gewohnter Selbstbilder auszuhalten – im Idealfalle, ohne dich in neue Klischees flüchten zu müssen. Denn das Konzept von Homo- und Heterosexualität (und damit folglich auch der Begriff »Bisexualität«) gehen davon aus, dass es verschiedene Sexualitäten gibt, »normale«, »gute« und »abnorme« – anstatt des Begehrens des Lebendigen nach dem Lebendigen, das auf so wunderbare Weise im übertragenen wie im ganz wörtlichen Sinne neues Leben hervorbringt.

Und so wie Schwanz und Herz, Möse und Herz verschmelzen, könnte auch unsere Sicht von »heilig« und »profan«, von »rein« und »unrein« in eins fließen zu einer neuen Sicht der Welt. Ich glaube, es würde uns allen nützen.

 

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