Freitag, 3. Dezember 2021

Vom endgültigen Tod einer alten Utopie

Kommentieren

Vom endgültigen Tod einer alten Utopie

Anmerkung: Dieser Text ist schon vor etwa sechs Wochen entstanden. Da hielt ich ihn noch für übertrieben und wollte ihn deshalb erst mal nicht veröffentlichen. Inzwischen haben ihn die Ereignisse eingeholt. Noch ist er denen immerhin eine Nasenlänge voraus. Noch.

Je länger das dauert, desto klarer wird mir, wie perfide das Alles ist. Es nutzt perfekt die Art von Trance aus, in der sich die überwältigende Mehrheit der Menschen befindet. Die einzige Möglichkeit, sich dagegen zu wehren besteht darin, kritisch zu sein – doch eben nicht nur gegen staatliche Verlautbarungen und »Maßnahmen«, sondern auch gegenüber sich selbst, also gegenüber den (fixen) Ideen, die uns gemeinhin so umtreiben und die von überall her bewusst und unbewusst in uns eindringen und geschickt verstärkt werden.

Ich könnte es »neoliberale Gesinnung« oder -Weltbild nennen, doch das ist nur eine lahme Umschreibung. Es ist mehr ein Bewusstseinszustand. Erich Fromm hat sich in »Haben oder Sein« ein ganzes Buch lang daran versucht. Ich meine hier das Bewusstsein des »Habens«, also seinen dort beschriebenen »Haben-Modus«, im Gegensatz zum »Sein«. Letzteres ist schon damals eine Art Utopie gewesen, und alles deutet darauf hin, dass sie es bleiben wird. Sinnigerweise ist der Untertitel des Buches »Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft« gewesen. Es verweist also sogar explizit auf eine Utopie. Doch wenn ich heute das Büchlein zur Hand nehme, dann liest es sich wie eine Abhandlung über etwas, das untergegangen ist wie die Zarenzeit in Russland.

Distanz zu sich selbst im Sinne dieses Büchleins ist heute regelrecht verpönt. Doch an genau so etwas wie Selbstreflexion hapert es bei den weitaus meisten – zeitgeistbedingt heute noch viel mehr als früher schon. »Fortschritt« meint heute das technisch Machbare, und das wird immer mehr: Es gibt bereits erste Handys, die ruckelfreie 8K-Videos erzeugen. Man testet bereits Drohnen, die uns alles nach Hause bringen sollen. Bald gibt es das »Designerbaby« und dazu die Verschmelzung von Mensch und Maschine. Immer mehr ist heute schon machbar oder bereits zum Greifen nah. Alles, aber auch wirklich alles scheint möglich …

Und heute sind so gut wie alle »Stars«, die im Dauerselbstdarstellungsmodus leben. Und Stars sind eben Stars – die stellen sich schon gar nicht mal selbst in Frage, sondern die haben Ansprüche und Erwartungen. Und platzen vor Selbstvertrauen und Optimismus – zumindest in der Öffentlichkeit. Damit ist das, was die weitaus meisten von uns derzeit »darstellen« salopp und flapsig auf den Punkt gebracht. Im Zeitalter des universellen Narzissmus hat man das so. Somit ist die Falle zugeschnappt. Alle fühlen sich wie Könige und Königinnen, mit fast unbegrenzten Möglichkeiten. Doch löst die weltweite Entwicklung, die sich in den letzten knapp zwei Jahren noch mal dramatisch beschleunigt hat, dieses Gefühl auch durch die Realität ein? Ich habe da sehr ernste Zweifel …

Denn wir haben mehrheitlich schon einen wichtigen Teil unseres Menschseins an die technokratisch-neoliberale Weltsicht »verkauft«, ganz sprichwörtlich. Deshalb ist das alles für die überwältigende Mehrheit schlichtweg keine Frage, ja überhaupt kein Problem mehr. Der »Teufel« hat gewissermaßen unsere Seelen bereits. So können wir jetzt dessen immer neueste »Angebote« genießen, ohne nennenswerte emotionale Dissonanz – und vor Allem: an seiner Macht teilhaben. Doch intensive Machtgefühle und echtes Mitgefühl gehen nur in sehr seltenen Fällen zusammen …

So »wissen« wir Menschen jetzt immer besser, was das Leben ist und wie es denn zu sein habe, und wir haben inzwischen alles in der Hand und werden es nach unseren Vorstellungen »optimieren«. »Gott ist tot!«, sagte Nietzsche schon im vorletzten Jahrhundert, und egal, ob er wirklich das damit gemeint hat – es trifft einen Punkt, beschreibt einen fundamentalen Paradigmenwechsel in der Art und Weise, in dem Wie des Bewusstseins, als Mensch in der Welt zu sein.

Und so war bereits vor Corona alles darauf ausgelegt, dass immer das offizielle Narrativ bestätigt wird. Jetzt eskaliert das Ganze, hat eine dramatische Eigendynamik gewonnen, deren Ende nicht abzusehen ist. Wenn jetzt also eine nennenswerte Zahl von Leuten in den zivilen Ungehorsam geht, dann lassen die sich viel leichter als früher als »Gefährder«, als »Nazis« etc. aufbauen – kurzum, als »die Bösen«. Da ist einfach jetzt viel mehr Brisanz drin, denn nun kann sich die »gerechte« und gehorsame Mehrheit sogar direkt von ihnen bedroht fühlen: Der »Spinner« von gestern ist der (Bio-)Terrorist von heute geworden.

Das lässt sich nämlich nun nicht mehr so leicht wie früher beiseite schieben, geht es doch buchstäblich »unter die Haut«. Doch mit genau dieser Brisanz, die nun hinter alldem steckt bestärken »die Bösen« indirekt auch die (selbst-)gerechte Mehrheit darin, dass sie »die Guten« sind, dass sie »die Lösung« haben und die anderen »das Problem« sind. Die Energie dieser gewollten und gezielt geschürten Polarisierung will letztlich irgendwo hin, und sie wird absehbar ihr Ziel finden. Nach der einhundertfünfzigsten, zweihundertsten Wiederholung »wissen« auch ehemals friedfertige Mitmenschen, wer die »Schuldigen« an ihrer Misere sind.

Und überhaupt – wer will schon ein »Problem« sein? Gar heute, in der »großen Zeit der Lösungen und des Optimalen«? Oder gar ein »Egoist«, ein »Unsolidarischer«, »Empathieloser«? Kurzum, ein »Volksschädling«, ein »Tyrann der Mehrheit«?« Es findet seit Längerem praktisch nur noch Spaltung statt. Der Graben wird immer tiefer. Denn bereits die Bereitschaft Fragen zu stellen weist einen als »Bösen«, ja als »Ketzer« aus, als »Verräter an der guten und gesunden Sache«. Und selbstverständlich sind diese Verräter schuld, wenn der große, heroische Krieg des ganzen vereinten Volkes gegen ein Virus an diesen Leuten scheitert!

Und da dieser Krieg, dem sich fast alle verschrieben haben gerade erst richtig angefangen hat, wird sich nichts ändern. Im Gegenteil, man kann sich von Staats wegen bereits auf diese sich unterschwellig aufbauende und wachsende Wut verlassen und ganz leicht eine Progromstimmung gegen diese »Spinner und Gefährder«, »diese Saboteure und Schmarotzer am Volkswillen« schüren – die dann irgendwann als Sündenböcke geopfert werden. Das wird zumindest vorübergehend die Wut und die Rachegelüste der Mehrheit befriedigen und festigt gleichzeitig den Zusammenhalt und das Gefühl von Rechtschaffenheit unter den Gläubigen. Wenn erst viele Blut an den Händen haben, schweißt das auch zusammen.

»Wer von euch ohne Fehler ist, der werfe den ersten Stein«, soll Jesus einst gesagt haben. Und Fehler, mithin Selbstzweifel, hat heute so gut wie niemand mehr.

Vorheriger Eintrag: Nächster Eintrag:
 

Dein Kommentar zu »Vom endgültigen Tod einer alten Utopie«

Dein Kommentar