Freitag, 7. Mai 2021

»Ich weiß, dass Sie das nicht verstanden haben«

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»Ich weiß, dass Sie das nicht verstanden haben«

Ich hätte gewarnt sein sollen. Schon damals. Da war ich gerade mal 16 und in der 11. Klasse des Gymnasiums. Nun, ich muss vorausschicken, Mathe war auch damals nicht gerade meine Stärke. Zugegeben, das hat wohl meine Mathelehrerin auch nicht begeistert. Irgendwie beruhte da also was auf Gegenseitigkeit.

Einmal bekam ich eine Mathearbeit zurück: eine fünf. Ich hatte schon beim Abgeben so ein blödes Gefühl. Doch als ich dann die mit roten Markierungen gesprenkelten Blätter durchsah, fiel mir doch was auf. Da war eine Aufgabe rot mit »falsch« markiert, obwohl das Ergebnis stimmte. Das wusste ich, denn schließlich waren wir ja alle Aufgaben in der Klasse eben noch mal durchgegangen.

Als die Stunde um war und alle nach draußen strömten, ging ich zu meiner Mathelehrerin und sprach sie darauf an. »Sie haben mir hier diese Aufgabe als falsch und ›null Punkte‹ bewertet, obwohl ich das Ergebnis richtig habe. Wie geht das?« Sie schaute mich von oben herab an, holte Luft und stieß dann entschieden hervor: »Ich weiß, dass Sie das nicht verstanden haben!« Damit drehte sie sich um und rauschte aus dem Klassenzimmer, in dem ich alleine zurückblieb.

Wahrscheinlich hatte sie mit ihrer Vermutung sogar Recht. Doch der Punkt ist: Ihre Vermutung war der alleinige Maßstab; die richtig gelöste Matheaufgabe spielte überhaupt keine Rolle. Zudem offenbarte sich in dieser kleinen Szene das Verhältnis zwischen ihr und mir in schonungsloser Klarheit. Es sei noch erwähnt, dass sie sich so sehr im Recht sah, dass sie es auch bei meinem späteren zweiten Anlauf verweigerte, mir nachträglich immerhin die richtige Lösung dieser Aufgabe anzuerkennen. Das hätte zwar an meiner Note nichts mehr geändert, doch wäre eine Geste der Fairness gewesen.

Wieso ich diese kleine Anekdote erzähle? Weil diese Haltung mir heute auf Schritt und Tritt begegnet. Meine Mathelehrerin gehörte gewissermaßen zu einer Art Avantgarde, die diese Haltung bereits Anfang der siebziger Jahre adaptiert hatte, ihrer Zeit um Jahrzehnte voraus. Heute wird nämlich kaum noch diskutiert, sondern es geht in der Regel gleich ad hominem. Man weiß es doch, ja ist sich völlig sicher: »Die da« sind alles Verrückte, also verdammte Corona-Leugner, ja Gefährder der öffentlichen Sicherheit – nee, eigentlich sogar TerroristenDie sind diejenigen, die die Demokratie gefährden und sie zerstören wollen. Und da man das ganz sicher weiß, muss man sie bekämpfen. Noch darf man sie nur ausgrenzen, diffamieren, verhöhnen, denunzieren. Sie Ruf-morden. Noch darf man sich ihrer nur mit diesen Mitteln erwehren. Noch.

Es gab auch damals Leute, die sich wünschten, ihre »Gerechtigkeit« gälte jetzt, heute. Dann hätten sie, wie sie mir ins Gesicht zischten, »solche wie mich« an die Wand gestellt. Oder ins Gas geschickt. Reinigung des Volkskörpers von Krankem, Gefährlichem. Das durfte ich mir in den vergangenen 13 Monaten in einer aktualisierten Version bereits mehrmals anhören. Jetzt träumen viele Leute davon, die Zukunft wäre schon heute. Noch ist sie es nicht. Doch wir sind kollektiv gut dorthin unterwegs. Und ich glaube, ich tue gut daran, das ernst zu nehmen. Solange ich es noch kann.

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