Sonntag, 22. November 2020

Was wären wir ohne die vielen Gerechten!

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Was wären wir ohne die vielen Gerechten!

Schweigemarsch. Bis auf zwei Banner am Kopf der Marsches und am Ende mit »Wir müssen reden« gibt es keine Logos, keine Sprüche, keine Fahnen. Ein buntes Völkchen hat sich versammelt, die weitaus meisten über fünfzig. Ganz junge Leute zwischen 20 und 30 sind die absolute Ausnahme. Die weitaus meisten tragen irgendwas über Mund und Nase, teils Masken, viele, wie ich, aber auch Schals oder Halstücher. Praktisch alle halten die vorgeschriebenen Abstände einigermaßen ein. In diesem Zusammenhang finde ich es sehr wichtig, der Polizei keinen Anlass zu bieten, den Zug aufzulösen.

Die junge Altersgruppe ist dafür in der »dynamischen Gegendemo« umso zahlreicher vertreten. Hier ist nämlich die Altersstruktur genau umgekehrt: Leute über etwa Mitte 40 sind die absolute Ausnahme. Und sie sind der Kontrapunkt zum Schweigen: Von »Nazis raus!« über »Schämt euch!« bis hin zu »Verpisst euch!« sind noch etliche andere Sprechchöre zu vernehmen, unterlegt mit Geklapper auf Töpfen, in die Fenster gestellte Lautsprecher und Leute mit Megaphonen und Vuvuzelas. Und natürlich gibt es viele entsprechende Schilder und Spruchbänder.

So gut wie alle GegendemonstrantInnen tragen eine Maske, meist eine schwarze. Auch die Leute auf den Balkonen, die zudem oft Banner mit Sprüchen wie »Gegen die rechte Opferinszenierung!« rausgehängt haben, tragen welche. Die Maske ist das Kennzeichen des Antifaschismus. Der Gerechten. Der Wissenden. Keine Maske ist gleich Nazi, MaskenträgerInnen hingegen sind Antifaschisten, KämpferInnen für das Leben, die Demokratie und die Gerechtigkeit. Sie zeigen es dem braunen Pack auf den Straßen, solchen Leuten wie mir. Ich bin froh, dass ich nachher inkognito nach Hause fahren werde. Einigen Leuten hier würde ich zutrauen, mich zu Hause zu »besuchen«, wenn sie wüssten wo ich wohne – immerhin ja im gleichen Stadtviertel wie sie.

So laufe ich also mit, mein Fahrrad schiebend, als »zertifizierter Nazi« (plus all die anderen Vorwürfe wie Antisemit, Rassist, und so weiter und so fort). Die Leute um mich her sind ruhig, gelassen, meist sogar amüsiert. Auch ich winke den ganzen Gerechten auf beiden Seiten lächelnd zu, zeige »Daumen hoch«. Viele von ihnen sind sehr erregt, ja scheinen geradezu zu schäumen vor Wut. Ein Mann mittleren Alters steht mit vor Erregung hochrotem Kopf am Straßenrand und brüllt Pöbeleien. Was sehen die alle in uns, in mir?

Ich bin sehr froh, dass die Polizei da ist und links und rechts von uns sowie hinter uns mitläuft. Ohne sie würde vermutlich einigen Hitzköpfen da am Straßenrand das Temperament durchgehen und sie würden sich zu Tätlichkeiten hinreißen lassen. Mir scheint, sie schirmen den Schweigemarsch hier und da sogar gezielt gegen ein paar besonders aggressive Grüppchen ab. Auch wenn ich um die Ereignisse der letzten Monate aus erster Hand weiß, so spüre ich doch, dass die Mehrheit der PolizistInnen wenn nicht auf unserer Seite, so doch zumindest grundsätzlich wohlwollend eingestellt ist.

Ich habe keinerlei Zwischenfälle von Seiten der DemoteilnehmerInnen mitbekommen. Nun, ich konnte nicht überall sein, doch am Alexanderplatz wurde der Zug wie vorher angekündigt von den Veranstaltern für beendet erklärt und die Leute gingen weg, standen später höchstens noch in kleinen Grüppchen abseits auf dem breiten Bürgersteig miteinander redend da. Alles in Allem ein sehr friedlicher Umzug, zumindest von Seiten der Teilnehmenden.

Ja, die vielen Aufrechten. Auch hier durfte ich mir einmal mehr anhören, wir seien das Problem. Zusammen mit der sonstigen aktuellen Entwicklung und der immer aufgeheizteren Stimmung überall, die ja von den Mainstream-Medien mit Benzin gelöscht wird, ist es, so sehe ich das, wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis die »Gerechten« im Schulterschluss mit der Regierung für Ordnung sorgen und die Demokratie vor braunem Pack wie uns retten werden.

Ein Mann meiner Altersstufe, mit dem ich ins Gespräch kam erzählte, er würde in letzter Zeit regelmäßig angepöbelt, weil er keine Maske trägt. Er meinte, er habe ein Attest, sich aber für diese Demo bewusst entschieden, eine Maske zu tragen. Das lässt mich nachdenklich zurück. Bislang stehe ich aber auf dem Standpunkt, dass sich schon irgendwer die Finger dreckig machen muss, um das »Problem« das ich verkörpere zu beseitigen. Bis dahin bleibe ich eine Körper gewordene Provokation.

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