Donnerstag, 28. Juli 2016

Bumm!

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Bumm!

Anschläge – jetzt auch in Deutschland. Coole Mienen auf der Straße, Gefühlswallungen in den sozialen Netzwerken. Mich ängstigen jedoch weniger die Anschläge als solche denn das, was ich tagtäglich sehe: Die beinahe schon maskenartigen Mienen der Menschen im Supermarkt, auf der Straße. Sie verbergen das, was ich von ihnen sehen, wahrnehmen könnte – das heißt, was jeden einzelnen von ihnen unmittelbar ausmacht, im tiefsten Innern bewegt. Ich habe den Verdacht, dass es die weitaus meisten Menschen selbst nicht wissen, ja gar nicht wissen wollen. Es würde nur stören. Das, was noch »durchkommt« wird inzwischen beinahe schon von Tag zu Tag weniger.

In manchen Situationen falle ich inzwischen bereits auf, weil ich weder eine Sonnenbrille trage noch Kopf- oder Ohrhörer benutze. Und auch keines der anderen Meme heutiger »Modernität« bediene: Basecaps, Tattoos, angesagte Mode, und, und. Wahrscheinlich verrät mich noch mehr als alles Andere mein Gesicht: Wenn das kollektive globale Bewusstsein sich auf den ungeschriebenen Konsens geeinigt hat, dass jede/r gottgleich, ein alles unter Kontrolle habender VIP ist und sich unglaublich frei und machtvoll fühlt, dann haben Menschen mit sichtbaren Traumata und Defiziten keinen Platz mehr in der Welt. Sie werden zunehmend als menschlicher Bodensatz gesehen. Ausschuss. Heute bestenfalls noch geduldet, morgen vielleicht schon aktiv bekämpft.

Bei sich sein war früher eine Art Abfallprodukt, etwas, das unbewusst »nebenbei passierte«. Dann wurde es etwas Unerwünschtes, Gemiedenes, danach etwas Verpöntes, schließlich etwas Verachtetes und heute etwas aggressiv Abgelehntes, ja Bekämpftes. »Ich will mit mir nichts zu tun haben!«, könnte ich diese Haltung etwas salopp auf den Punkt bringen. Und jeder, der »mitmacht« erhöht den Druck für alle ein kleines Bisschen mehr.

Wenn die eigene Selbstwahrnehmung und die vom Außen entgegengebrachte Wertschätzung (oder besser gesagt Nicht-Wertschätzung) zu sehr auseinander klaffen, mithin die selbst empfundene und die vom Außen gespiegelte Wichtigkeit in krassem Gegensatz zueinander stehen, ergibt sich eine Spannung. Eine Spannung, die heute dank fast universell verbreiteter neoliberaler Wertvorstellungen stärker ist als früher: Der »Markt« ist das Maß aller Dinge. Alles ist machbar, wenn du nur willst. Wenn du es schaffst, bist du Sieger, ein Star. Wenn nicht: selber schuld. Da ist diese Spannung zwischen Verzweiflung und Größenwahn. Nun, um ganz ehrlich zu sein, da darf ich mich auch an die eigene Nase packen.

Durch glückliche Umstände (die gleichwohl meist in sehr traumatisierender Gestalt daherkamen) bin ich jetzt dort, wo ich mich mehr und mehr spüren kann. Dankbar bin. Wach sein kann.

Andere kommen zu anderen Ergebnissen. Jetzt und heute diesem Zwiespalt und dem Mahlstrom des Zeitgeistes schutzlos ausgesetzt zu sein kann zu extremen Reaktionen führen. Denn wir haben uns nicht automatisch auch als Menschen weiterentwickelt, nur weil wir uns heute zum Beispiel von fast überall aus bei Facebook oder WhatsApp einloggen können.

Einige der von anderen als Ausschuss Wahrgenommenen und Zurückgewiesenen schießen sprichwörtlich nach außen. Zum Beispiel indem sie sich in einer Menschenmenge selbst in die Luft sprengen. Oder wild um sich schießen. Der Einsame, der Ausschuss, explodiert ganz sprichwörtlich oder in übertragenem Sinne inmitten Anderer (es sind in den allermeisten Fällen Männer, ganz junge oft – warum?). Womöglich schafft er es so, sich einen Moment mit persönlichem Sinn zu schaffen, einem Sinn, den er sonst nirgends fand. (An-)Schlagartig feuert er sich ins Zentrum der Aufmerksamkeit – fast immer zum ersten und gleichzeitig letzten Mal.

Damit ist das Selbstmordattentat die bislang perfekteste Verkörperung des Zeitgeistes, seine radikalste, im wahrsten Sinne des Wortes knalligste Repräsentation, und gleichzeitig der radikalste denkbare Protest dagegen: Es ist ein letzter, äußerster Akt der Ver-Zweiflung an unserer heutigen Welt und gleichzeitig die ultimative narzisstische Show.

 

Nachtrag 11.3.17: In Herne geschah ein Doppelmord, begangen von einem jungen Mann. Einem, der die Spannung zwischen seiner Selbstwahrnehmung und den Verhaltenserwartungen seiner Umwelt nicht mehr aushielt.

Natürlich ist dieser junge Mann alles Andere als ein Monster, sondern einer, der dem Zeitgeist auf eine extreme Weise verfallen ist: Ums nicht Fühlen, um Dominanzgefühle und Drüberstehen, ums Sieger und überlegen Sein geht es. Für die meisten bieten die angebotenen und sich ergebenden Machtspielchen des Alltags genug Ventil und Befriedigung. Für diesen jungen Mann »reichte« das nicht mehr. Der Ausbruch kostete zwei Menschen das Leben.

Möglicherweise wird eine psychologische Untersuchung ergeben, dass er die Kriterien einer psychischen Erkrankung erfüllt. Das ändert aus meiner Sicht jedoch wenig daran, dass er nur auf extreme Weise ausgelebt hat, was allgemeines Vorbild für alle ist – ganz besonders jedoch für Männer. So lange dies so bleibt, sind alle die »mitmachen« ein ganz klein wenig mitschuldig an solchen Taten.

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