Donnerstag, 8. September 2011

Sind Symbole wichtiger als Menschen?

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Sind Symbole wichtiger als Menschen?

Ein paar ketzerische Gedanken zum 10. Jahrestag von 9/11

Nun jährt sich zum 10. Mal der Tag, an dem es geschah – der Anschlag auf das World Trade Center (WTC) in New York. Damals flogen Terroristen aus einem Land, mit dem die USA freundschaftliche geschäftliche Beziehungen unterhielten, zwei vollbesetzte Passagierflugzeuge in die Türme. Nach verheerenden Bränden stürzten die Gebäude schließlich ein und rissen fast alle, die sich noch lebend darin befanden, in den Tod. Insgesamt, schätzt man, verloren knapp 3.000 Menschen bei der Katastrophe ihr Leben.

Heute gibt es eine Gedenkstätte an der Stelle, an der die beiden Türme einst standen. Sie kostete 700 Millionen Dollar und wird am zehnten Jahrestag des Anschlags eingeweiht. In unmittelbarer Nachbarschaft wachsen mehrere neue Gebäude in den Himmel, darunter das zunächst »Freedom Tower« genannte »One WTC«, eine Glas und Beton gewordene »Antwort« der Stadt New York und der USA, ein »Trotzdem«, oder vielleicht sogar ein »Jetzt gerade«. Es wird zu den höchsten Gebäuden der Welt zählen und soll in einigen Jahren bezugsfertig sein.

Den Ort der Katastrophe nennt man ganz militärisch »Ground Zero«. Das ist der Ausdruck für den Punkt, an dem eine (Atom)Bombe ihre höchste Zerstörungskraft erzielt hat. Das bekannteste »Ground Zero« war vorher der Punkt, an dem die erste militärisch eingesetzte Atombombe explodierte, in Hiroshima am 6. August 1945. Sie kostete insgesamt geschätzte 200.000 Menschen das Leben. Eine zweite folgte, drei Tage darauf, auf Nagasaki, mit sehr ähnlichen Folgen. Die erste Bombe nannten ihre Erbauer übrigens »Little Boy« – kleiner Junge, die zweite »Fat Man« – dicker Mann. Niedlich, der Tod, nicht wahr – solange er andere betrifft.

Um Missverständnisse gleich zu vermeiden – nichts rechtfertigt diese Anschläge auf eine der größten und hektischsten Städte weltweit. Und es ist auch völlig in meinem Sinne, dass es demnächst eine zentrale Gedenkstätte für die Opfer am Ort des Geschehens gibt. Doch was haben die Flugzeuge vor zehn Jahren eigentlich getroffen, wieso konnte der Anschlag zumindest indirekt sogar als Grund für einen Krieg herhalten, ohne dass sich nennenswerter Widerstand regte?

Nehmen wir alleine die Zahl der jährlichen Verkehrstoten in Deutschland (2009 waren das etwas über 4.000), oder die vermutete Zahl derer, die nur in Deutschland durch Nebenwirkungen von Arzneimitteln sterben (geschätzte 16.000 pro Jahr) oder durch weltweite kriegerische Konflikte, dann relativiert sich die Zahl der Opfer schnell. Um es krass zu sagen: Fünf Millionen Tote in den Dschungeln des Kongo interessierten niemanden, doch die 3.000 Toten dieses Anschlags sind Helden der Nation, wie Soldaten, die für ihr Land in den Krieg zogen und fielen.

Also, um in dem Bild zu bleiben – für wen oder was »fielen« die 3.000 Opfer des Anschlags auf die Zwillingstürme? Was machte sie zu nationalen Helden? Wieso sind Verkehrstote keine Helden, wieso gibt es keine zentrale Gedenkstätte für sie? Auch sie sind im Rahmen und in Folge unserer zivilisatorischen Aktivitäten gestorben. Gut, die Verkehrstoten starben nicht spektakulär alle auf einen Schlag an einer Stelle, sondern verstreut über das Land und meist wie nebenbei. Und doch, es sind viele, sehr viele. Wieso keine zentrale Feier, keine zentrale Gedenkstätte für sie? Wieso sind sie keine Helden?

Für was »kämpften« die Toten des WTC, für was stehen sie? Was macht ihr Heldentum aus? Mir geht es hier um das Gesamtbild. Ich verneige mich vor allen, die anderen im Augenblick des Desasters unter Einsatz ihres Lebens halfen. Von diesem Heldentum rede ich hier nicht, das steht für mich außer Frage. Doch für was sind die Toten des WTC »gefallen«, was macht sie zu Nationalhelden, die eine Bombe traf, als sie sich an einem Ort befanden, den man nun »Ground Zero« nennt? Wieso nannte man den neuen, höchsten Turm des Gebäudeensembles, das gerade entsteht, zunächst »Freedom Tower«, Freiheitsturm, und erst später prosaischer »One WTC«?

Für mich waren die Zwillingstürme ein Symbol. Ich habe sie nie in Natura gesehen, doch schon die Bilder und Filme, die sie zeigten, machten für mich klar, dass sie ein Symbol der »freien Wirtschaft« waren, des Welthandels nach den Maßstäben der westlichen Welt, ja für die »Freiheit« des Westens an sich standen. Sie hießen »Welthandelszentrum«, und selbst wenn mir klar ist, dass die weitaus meisten wichtigen Entscheidungen der Weltwirtschaft und des Welthandels an anderen Orten getroffen wurden, so blieben sie für mich ein Symbol. Für mich hatten sie etwas vom Turmbau zu Babel, vom »Willen zur Macht«. Sie waren eine Art Stein und Glas gewordenes »Victory«-Zeichen, das ja aus zwei zum »V« hochgehaltenen Fingern besteht.

Eine Zeit lang waren sie auch die höchsten Gebäude der Welt, und eine Sensation, als sie Anfang der siebziger Jahre gebaut wurden, eine Art Weltwunder. Sie erschienen mir mit ihrer schlanken, Glas und Stahl-betonten Erscheinung wie ein Symbol des Sieges des Menschen über die Materie; sie hatten etwas Surreales für mich, wie eine Erscheinung. Und dann diese Anhäufung von Superlativen! Einen Sturm bis 300 Km/h sollten sie aushalten können, ein schweres Erdbeben, und auch einen Einschlag des damals größten Passagierflugzeuges, der Boeing 707, die für sich selbst schon ein Mythos war. Kurzum, diese Türme symbolisierten für mich die Macht und Unbesiegbarkeit Amerikas, den unbedingten Willen zum Sieg über alles, was sich dem menschlichen Geist in irgendeiner Form entgegenstellen würde.

Und dann … wurde dieses Symbol von einem perfiden Anschlag getroffen. Es war ein Anschlag auf alles, was die Amerikaner als ihre Werte ansahen, auf den amerikanischen Geist an sich. Jemand hatte es gewagt, jemand hatte die Unverfrorenheit besessen, in der unmittelbaren Nähe meines Lieblingsluftballons mit einer Nadel herumzufuhrwerken. Als ich vor zehn Jahren von meiner Tätigkeit bei einer Einrichtung nach Hause kam, die übrigens, rückblickend gesehen, alle (!) Kriterien für den »Irrenhaus-Check« nach Martin Wehrle erfüllte, kam meine damalige Freundin zu mir. Es war Nachmittag, und sie sagte aufgeregt: »Mach’ schnell den Fernseher an! Ich habe da gerade im Autoradio gehört …!«.

Dann kam das Bild, und ich sah die brennenden Zwillingstürme. Völlig surreal. Mein erster Gedanke war: »Was für ein komischer Science Fiction-Film!«. Ich brauchte ein paar Minuten, um ganz zu begreifen, dass es sich um Live-Bilder aus New York handelte. Als es dann »angekommen« war, breitete sich Fassungslosigkeit in mir aus. Wie war das möglich? Was war geschehen? Beinahe ängstlich angeschmiegt saßen wir da und starrten auf das, was da live vor unseren Augen über den Bildschirm lief.

Wie sich bald herausstellte, wurden auch noch andere Symbole der USA angegriffen – ein Flugzeug stürzte ins Pentagon, ein weiteres sollte wohl das Weiße Haus treffen, was jedoch durch den mutigen Einsatz mehrerer Passagiere verhindert wurde. Das Flugzeug stürzte beim Kampf mit den Entführern aus großer Höhe auf ein Feld, alle Insassen starben.

Einzig noch der Einschlag eines Flugzeugs ins Weiße Haus hätte die Symbolkraft der brennenden Zwillingstürme übertreffen können. Der Anschlag auf das Pentagon verblasste dagegen regelrecht im »Schatten« der in Flammen stehenden Siegeszeichen. Immerhin ist es ja auch nicht so ohne, ein Verkehrsflugzeug in die militärische Kommandozentrale der stärksten Macht der Erde zu fliegen …

Es bleibt also das Attentat auf die Symbole des »freien« Handel(n)s im Vordergrund, auf die Symbole der Freiheit der Amerikaner, über die Welt zu herrschen, die Symbole des Sieges des Kapitalismus, des »American Way of Life«. Wie »frei« der Welthandel wirklich ist, wird jede(r) begreifen, der oder die sich etwas eingehender mit der Geschichte der vergangenen Jahrzehnte beschäftigt hat: »Frei« sind vor allem die großen Konzerne und Kapitalgesellschaften der westlichen Welt, der restlichen ihre Bedingungen aufzudrücken. Wem die nicht passen, hat eben »Pech« gehabt. Es kann halt nur einen Sieger geben, und der heißt in den weitaus meisten Fällen noch immer USA, dicht gefolgt und begleitet von Europa.

Diese Anschläge waren also eigentlich ein Schlag gegen den Herrschaftsanspruch, den der Westen, angeführt von den USA, in der Welt hat. Das ist seine wirkliche Bedeutung, zusammen mit dem Verlust des Gefühls, unverwundbar zu sein, unter allen Umständen über den Dingen zu stehen, »cool« zu sein.

Der Verlust dieses Gefühls, diese erzwungene »Erdung« ist wohl eigentlich das Schmerzlichste an dem Geschehen von vor zehn Jahren, so schlimm der Verlust ihrer Lieben für die Angehörigen der Opfer dieser Katastrophe auch ist. Doch das wurde meines Erachtens nur von ganz wenigen begriffen, geschweige denn in irgendeiner Form konstruktiv umgesetzt. Stattdessen gab es den »Krieg gegen den Terror«, die »Achse des Bösen« und einen Einmarsch in den Irak, der mit Sicherheit nur nebenbei die Absetzung eines Despoten zum Ziel hatte. Der Einmarsch wurde zudem mit weitgehend erlogenen Argumenten gerechtfertigt.

Die Chance zum Innehalten und Sich-Besinnen wurde vertan, stattdessen folgte ein nationalistischer Furor, der alle vernünftigen und besonnenen Handlungsoptionen beiseite fegte. Die Möglichkeiten, die die damals weltweite Solidarität mit den USA diesen eröffneten, wurden vertan, bevor sie überhaupt auch nur ansatzweise als solche wahrgenommen wurden.

Weiter so, mehr, mehr! So könnte stark vereinfacht das Credo lauten, das nach wie vor und auch trotz der Wirtschaftskrise vor drei Jahren erklingt. Niemand will nachdenken, niemand will sich ernsthaft unangenehmen Fragen stellen. Wozu auch? Solange man sich wie bisher durch die Welt schlägt, gibt es keinen Grund nachzudenken, geschweige denn, einmal innezuhalten. Alles rechtfertigt sich selbst, der Zweck heiligt die Mittel. Statt einem neuen, partnerschaftlicheren Ansatz im Welthandel besteht man weiter auf seiner »Freiheit«, die im Grunde nur Rücksichtslosigkeit und Selbstsucht ist. So wird »One WTC/Freedom Tower« die nächste Erektion des »amerikanischen Bewusstseins« sein, und alle werden wieder aus allen Wolken fallen, wenn es erneut Versuche geben sollte, sie mit einer Nadel zum Abklingen zu bringen.

Anmerkung: Wurde vorhin darauf hingewiesen, dass die aktuelle Bezeichnung der Neubauten des WTC nun lautet »One WTC, Two WTC, Three WTC, …«. Am 9.9.11 entsprechend geändert. Nachtrag 11.9.11: Hier der Link zu einem lesenswerten Artikel des US-Schriftstellers Adam Haslett, in Übersetzung verfügbar auf Spiegel Online.

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