Mittwoch, 11. Mai 2011
Sieger überall
Sieger überall
Sieger gibt es heutzutage viele. Sehr viele. Gehe ich durch die Straßen, so sehe ich eine große Mehrheit, die sich dazu zu rechnen scheint, und eine kleine Minderheit, die offenbar »nicht dazu gehört«. Die Vielen tragen ein unsichtbares T-Shirt mit der Aufschrift »Ich bin ein Star, holt mich hier ‘raus!« und die entsprechende Miene im Gesicht. Insofern verkörpert das Motto und der Name dieser Sendung (»Dschungelcamp«) auf sehr symbolträchtige Weise den Zeitgeist. Die Zumutungen für diese Stars bestehen allerdings im Dschungel des Alltagslebens weniger aus irgendwelchem Ekelgetier, sondern eher aus Leuten wie mir, die »nicht dazugehören«.
So war es nur konsequent, als mir vor einiger Zeit am Badesee ein gut aussehender junger Mann entgegen rief »Mein Gott, wie eklig!«. Ich badete nackt, wie das früher in der DDR völlig selbstverständlich war, er mit drei Badehosen übereinander. Dazu muss ich einfügen, dass man mir mein Alter natürlich ansieht, doch wenn ich den Äußerungen verschiedener Freunde und Bekannter glauben kann, dürfte mein Anblick auch unbekleidet noch mehr als akzeptabel sein.
Ich entschied mich, seinen Affront einfach zu ignorieren. Anscheinend war er das Alphatier einer Gruppe junger Leute, die mit ihm dort waren, zumindest legten meine Beobachtungen das nahe. Immerhin hatte sein zweimal getätigter Ausruf keine weiteren Folgen für mich, ich wurde nicht weiter angepöbelt oder sonstwie angegriffen.
Sieger bzw. Stars zeigen sich nicht nackt, das ist unter ihrer Würde. Das betrifft auch das Duschen nach dem Sport. Wenn überhaupt in der Schule oder dem Fitnessstudio geduscht wird, dann mit Badekleidung. Meistens aber auch das nicht mehr, es könnte ja etwas zu sehen sein, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Zumindest in den USA ist das ein starker Trend bei jungen Leuten, und nach allem, was ich so mitkriege, auch bei uns. Hier ein Link zu einem Artikel des »Orlando Sentinel« zum Thema (auf englisch).
Sieger sind stark. Sie fragen nicht. Sie handeln. So wie die Navy Seals, die vor kurzem Osama Bin Laden in einem offiziell mit den USA verbündeten Land zur Strecke brachten. Sie flogen mit High-Tech-Tarnhubschraubern an, drangen in das Anwesen des Kopfes der Al Qaida ein und schossen – wie sich später herausstellte, auf einen unbewaffneten Bin Laden. Möglicherweise wollte man ihn auch gar nicht verhaften – wenn schon die nicht prominenten Häftlinge auf Guantanamo kaum auf einen fairen Prozess hoffen konnten, wie dann erst Bin Laden? Da war es zudem auch einfacher und sicher im Sinne der Mehrheit der amerikanischen Wähler, dass man den Prozess abkürzte. Wie hätte man den auch einer Öffentlichkeit verkaufen sollen, deren Mehrheit klare Ergebnisse erwartet und die die UNO für eine eher überflüssige Institution hält, für eine Organisation, die die Tüchtigen (also die USA) von ihrer Arbeit abhalten will? Die Interviews mit Leuten auf den Straßen Amerikas, die ich dazu im Fernsehen sah legten nahe, dass jede andere Vorgehensweise bei den meisten wohl auf völliges Unverständnis gestoßen wäre. »Mit dem Teufel verhandelt man nicht« sagt ein Sprichwort: Die einzig passende Antwort ist eine Salve Kugeln. Die Menschen sollen vielerorts auf den Straßen getanzt haben, nachdem die Nachricht von Bin Ladens Tod sich verbreitet hatte.
Ich hätte es wesentlich spannender gefunden, irgendwann einmal zu erfahren, welche Rolle der »Terrorfürst« denn nun bei den ihm zur Last gelegten Geschehnissen wirklich gespielt hat. Ich bezweifle aber, dass eventuelle Erkenntnisse, die seine Rolle relativieren, wirklich erwünscht wären. Womöglich wäre er dann nicht mehr der Teufel, sondern »nur« noch ein durchgeknallter Mensch. Doch müssten sich dann wesentlich mehr Leute als bisher an die eigene Nase packen. Mit Hitler war das m.E. ähnlich, und ist es noch. Wenn einer den Dämon in Menschengestalt gibt, können sich alle anderen viel unschuldiger fühlen.
Sieger stehen über den Dingen. Oh, ist etwas falsch gelaufen? Habe ich einen Fehler gemacht? Na und! Themenwechsel! Niemand hat es noch nötig, über das zu reflektieren, was er/sie getan hat. Warum auch? Es ist lästig, es ist uncool: »Ich diskutiere nicht, ich sage meine Meinung!«. So sehen Sieger aus. Ein Mann (bzw. eine Frau), ein Wort – basta!
Der dokumentarische Spielfilm »The Social Network« über die Entstehung von »Facebook« zeigt einen Mark Zuckerberg, dessen Darstellung im Film laut einem »Spiegel«-Artikel noch geschönt ist. Ich finde es immerhin mutig, einen solchen Film zu drehen, denn Facebook hat genug Geld, um notfalls Staranwälte gegen Unerwünschtes antreten zu lassen.
Aus meiner Sicht ragt Mark Zuckerberg aber nur insofern über seine Kommilitonen und Partner an der Elite-Uni Harvard hinaus, als dass er das entscheidende bisschen abgebrühter und skrupelloser auftritt als diese. Er ist ausgestattet mit einem Selbstvertrauen, bei dem sich die Frage nach Arroganz schon nicht mehr stellt. Es hat eine Qualität jenseits solch »kleinkarierter« Urteile bekommen. Diese Mischung aus sozialer Inkompetenz, aggressiver Naivität und dem Wissen um die eigene Genialität lässt ihm offenbar sein Verhalten aus seiner Sicht völlig selbstverständlich erscheinen.
Freundschaft und Fairness werden da schnell zu relativen, hoffnungslos gestrigen Begriffen. So ist auch der einzige wirkliche Verlierer im Film wie in der Realität Eduardo Saverin, der noch an solche Relikte aus der analogen Zeit glaubte. Immerhin hat er später nach einem Prozess gegen Zuckerberg erreicht, dass er nun als Mitgründer von Facebook genannt wird. Auch bekam er fünf Prozent der Aktien zugesprochen – zumindest finanziell wurde er also entschädigt. Die menschliche Enttäuschung, als ein sich als enger Freund Zuckerbergs Wähnender von diesem einfach ausgebootet worden zu sein, kann ihm hingegen niemand nehmen. Es heißt, er sei eine der Hauptquellen der Drehbuchschreiber des Films gewesen.
Kryptisch und vieldeutig sagt denn auch in der Schlusssequenz des Films eine Anwältin zu Zuckerberg: »Sie sind kein Arschloch. Sie geben sich nur größte Mühe, eines zu sein.«
Sieger stehen alleine. Sie sind nur sich selbst Rechenschaft schuldig, wenn überhaupt. Geht es gut, sind sie diejenigen, die das alles geschafft haben. Geht es nicht gut, dann sind andere schuld. Lässt sich kein Schuldiger ausmachen, weil das Geld für die richtigen Anwälte fehlt oder es nun gar keine Möglichkeit gibt, jemandem diese Rolle zu delegieren, dann bleibt nur noch der Selbstmord oder der Amoklauf. Denn ein Sieger geht aufs Ganze. Alles oder nichts. Wobei der Begriff »Nichts« selbstverständlich in der Terminologie eines echten Siegers unbekannt ist.
So rennen denn viele von uns von Sieg zu Sieg. Sie sind die Stars, die endlich gesehen und hier ‘rausgeholt werden wollen. Facebook und Youtube helfen ihnen dabei. Also: Wann begreift das endlich jemand?
Allen voran jagen unsere großen Vorbilder, die Amerikaner. Sie haben die längste Erfahrung damit, sie sind die Prototypen. Denn das ist noch ein Kennzeichen der Sieger: Sie stehen nach einem Sturz immer wieder auf. Das ist wunderbar. Stecken sich eine Lucky Strike in den Mundwinkel und einen Kaugummi in den Mund, setzen die Sonnenbrille wieder an ihren Platz und eine Coke an die Lippen. Ohne groß darüber nachzudenken, was sie zu Fall gebracht hat. Warum auch? Sie sind doch Sieger. Dann klopfen sie sich lässig den Staub von den Lacoste-Hosen und stürmen weiter, dem nächsten Sieg entgegen.
Vielleicht, wenn der Sturm lange genug getobt hat, gehöre ich ja eines Tages auch dazu.
Nachbemerkung: Hier ein Link zu einem Artikel auf Spiegel Online, ein Essay des Schriftstellers Bodo Kirchhoff zum Thema. Das Ereignis, auf das er Bezug nimmt, liegt zwar schon eine Weile zurück, seine grundsätzlichen Überlegungen sind aus meiner Sicht jedoch aktueller denn je.
Nachtrag 18.12.18: Wer mit diesem Text rein gar nichts anfangen kann, mag, wenn sie/er auch englische Texte liest, sich mal diese beiden Artikel beim Guardian anschauen – geschrieben von zwei Amerikanern, einem Mann und einer Frau, die inzwischen sehr nachdenklich geworden sind, was die USA (und letztlich die gesamte westliche Kultur) angeht.
Ladies first – Suzy Hansen schreibt unter dem Titel »Unlearning the myth of American innocence«, und Lyle Jeremy Rubin äußert sich über seine Zeit bei der U.S. Army in »’A torrent of ghastly revelations‘: What military service taught me about America«