Sonntag, 21. Februar 2016
»Was ist der Mensch?«
»Was ist der Mensch?«
Diese Frage steht am Ende des Artikels von Georg Diez, und es klingt Entsetzen an ob der jüngsten Entwicklungen in Sachen Flüchtlinge. In Clausnitz in Sachsen hat ein wütender Mob einen Bus mit Flüchtlingen aufgehalten. Die Polizei ergriff nicht die Partei der Flüchtlinge, wie man hätte meinen können, sondern ein Polizist zerrte sogar ohne ersichtlichen Grund ein Kind(!) aus dem Bus und brachte es zur Polizeiwache.
Ich muss Georg Diez grundsätzlich zustimmen: Die Stimmung beginnt zu kippen, und das nicht nur hierzulande. Von Polen, Ungarn und seit Kurzem Österreich will ich hier gar nicht reden. Eine immer größer werdende Minderheit sympathisiert mit Parteien wie der AfD, die offen fremdenfeindliche und nationalistische Forderungen vertritt, ja sogar öffentlich den Gedanken ventiliert, man müsste auf die Flüchtlinge schießen, um sie am Betreten Deutschen Bodens zu hindern.
Aus meiner Sicht ist die AfD nur die Spitze des Eisbergs, der Teil des Hangs, dessen Rutschen jetzt schon zu sehen ist. Noch ist das ein kleiner Teil. Doch wenn erst die Mehrheit der zur Zeit noch Gleichgültigen Partei ergreifen wird, könnte das schnell anders aussehen. Ein islamistischer Anschlag in Deutschland würde reichen, und wenn sich dann noch herausstellen würde, dass die Attentäter mit den Flüchtlingsströmen »eingesickert« sind, ist wohl alles zu spät.
Diez schimpft auf die Politiker, die Eliten. Sicher könnten sie die Wogen glätten, wenn sie wollten, natürlich nicht völlig, doch spürbar. Doch aus meiner Sicht geht das Problem tiefer. Da kommen fremdländische Menschen ins Land, »illegal« übers Meer und über die grünen Grenzen, von denen viele einer Religionsgemeinschaft angehören, die einen Totalitätsanspruch hat. Zugegeben, auch ich finde das irritierend. Doch es sind Menschen in Not, die aus gutem Grund ihre Heimat verlassen haben, um unter Lebensgefahr nach Europa zu gelangen.
Dass sie gehen mussten, daran tragen wir zumindest eine Mitschuld, das sollte uns klar sein. Sei es, dass der Westen, also auch Europa, sich im Umgang mit den Konflikten in den Herkunftsländern der Menschen sehr ungeschickt angestellt hat, sei es, dass man ohne triftigen Grund die Hilfs- und Lebensmittellieferungen in die großen Flüchtlingslager vor Ort (im Libanon, in Jordanien zum Beispiel) halbiert hat und es darüber hinaus womöglich noch zuließ, dass die Menschen dort mit falschen Hoffnungen und Erwartungen verlockt wurden, sich nach Norden auf den Weg zu machen.
Ein Kernthema der gegenwärtigen Zustände habe ich noch nirgendwo angesprochen gesehen: Diese armen Menschen, die da zu uns kommen, haben noch nichts geleistet und sind es deshalb nicht wert, von uns unterstützt zu werden. Das ist nicht nur eine typisch deutsche Haltung, sondern wird auch übergreifend vom neoliberalen Zeitgeist befeuert. Vor allem Menschen, deren »Wert« auch bei uns offen oder indirekt als gering eingestuft wird tendieren dazu, ihre Minderwertigkeitsgefühle verstärkt auf ein äußeres Ziel, einen äußeren »Feind«, in diesem Fall also die Flüchtlinge, zu projizieren. »Warum sollen die etwas bekommen, was ich nicht bekommen kann? Ich habe schon so lange darum gekämpft, und die noch keine Sekunde!« So etwa könnte ich das stark vereinfacht auf den Punkt bringen. Neben der Angst vor Fremden spielt hier eine Art von Missgunst und Neid eine Rolle, die ich zwar verstehen, doch alles andere als gutheißen kann.
Ich weiß nicht, ob auch in den anderen europäischen Ländern Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte geschehen, und wenn ja, in welchem Umfang. Doch ich kann mir vorstellen, dass in einem Land, das vor nicht allzu langer Zeit Menschen unter den Mottos »Arbeit macht frei« und »Vernichtung durch Arbeit« in industriellem Maßstab ermorden ließ die Ressentiments in dieser Richtung stärker ausgeprägt sind als anderswo.
»Was ist der Mensch?« Genau hundert Jahre ist es jetzt her, dass die Schlacht von Verdun begann, die 300 Tage und 300 Nächte dauerte und 300.000 Menschen auf beiden Seiten der Front das Leben kostete – nur alleine an diesem Frontabschnitt! Viele Historiker halten dieses Ereignis für die »Ursünde« des 20. Jahrhunderts, zumal selbst nach der Logik des Krieges dieses unsägliche Leiden und die unvorstellbare Ressourcenverschwendung keinerlei Sinn ergaben. Sie geschah aus einer Dynamik des »Weiter so!« heraus, einem bornierten Festhalten an ideologischen Grundsätzen auf allen Seiten.
»Was ist der Mensch?« Ideologie über Menschlichkeit – wenn wir es nicht schaffen, diese Reihenfolge allumfassend umzukehren, dann Gnade uns …