Sonntag, 5. April 2015
Michael Jackson lebt
Michael Jackson lebt
Heute auf dem Flohmarkt im Mauerpark in Berlin. Viele junge Menschen um mich her. Die über Dreißigjährigen stehen hinter ihren Waren an den Ständen. Unter den Besuchern treibt meine Gegenwart und die meines Freundes den Altersdurchschnitt gleich um etliche Jahre nach oben.
Viele Sonnenbrillen. Viele schöne, optimierte Menschen. Makellose Gesichter. Optimierte Gesten. Optimiertes Lächeln. Ich werde den Verdacht nicht los, dass »Photoshop« inzwischen nicht mehr nur auf Digitales anwendbar ist. Es gibt ja auch schon 3 D-Drucker …
Auf einmal direkt vor mir eine Frau, deren Alter undefinierbar ist – ist sie Mitte Zwanzig oder schon Mitte Dreißig? Gar noch älter? Oder doch viel jünger? Ich hätte es beim besten Willen nicht sagen können. Ihr Gesicht wird zu einem guten Teil von einer schicken Sonnenbrille verdeckt.
»Angesagte« Kleidung. Gestyltes Haar. Ein sorgfältig rot geschminkter, schmaler und kleiner Mund. Ihr restliches Gesicht scheint auch geschminkt, doch da bin ich mir nicht sicher. Sie strahlt dieses pampig-blasierte Selbstvertrauen aus, das heute weitgehend Standard zu sein scheint, bei jüngeren Leuten zumindest. Pokerface, Ausgabe 2015. Maske und Outfit sind, um es kurz zu machen, perfekt.
Ist es mein Anblick, der Anblick eines älteren, nicht optimierten Menschen – »einfach so« da, ohne sich anzustrengen, ohne den permanenten Ehrgeiz, jemand zu sein? Der eine abgewetzte, alte Lederjacke trägt und schlichte, schwarze Jeans einer unbekannten Marke (nein, nicht von KIK)? Weder mit diesem eingefrorenen, grenzenlosen Optimismus im Gesicht noch mies drauf?
Oder ist es »einfach so« passiert? Sie trinkt aus etwas wie einem Kaffeebecher oder einer kleinen Flasche, und da geschieht es: Ein wenig tropft auf ihre stylische schwarze Jacke. Ihre Gesichtszüge entgleisen für den Bruchteil einer Sekunde, dann hat sie sich wieder unter Kontrolle.
Ich muss unwillkürlich grinsen. Nicht, dass ich mich nicht bekleckern würde, im Gegenteil: Das ist etwas, was ich wirklich kann. Nein, es ist ein Anflug von Schadenfreude. Da hat sie solch einen Aufwand getrieben, außen und innen, um perfekt zu sein. Unangreifbar. Überlegen. Und dann das …! Bestimmt lässt sich der Tropfen sogar abwischen, ohne Spuren oder Flecken zu hinterlassen. Aber innen bleibt wohl ein Fleck zurück. Ich weiß nicht, ob ich lachen, schreien oder ob sie mir leid tun soll. Wahrscheinlich alles zusammen.
Ende der Achtziger Jahre erschien mir Michael Jackson noch monströs in seiner unerbittlichen Konsequenz, sein Äußeres in eine undurchdringliche Maske zu verwandeln. Damals war er einer der ersten Stars, die das vormachten. Sein Vorbild ist heute Allgemeingut. Und plötzlich tut sich, wenn auch nur für einen kurzen Moment, ein Riss darin auf. Und so etwas eigentlich Banales löst inzwischen solche Reaktionen bei mir aus …