Dienstag, 18. September 2012
Kulturschock
Kulturschock
Wie jeden Morgen in letzter Zeit nahm ich auch heute morgen ein kleines bordeauxrotes Büchlein zur Hand, um es für einen zufälligen »Tagesspruch« willkürlich aufzuschlagen. Es heißt »Weisheit der Welt – Worte zum Atemholen« (Herder, Freiburg 2003). Darin sind eine Menge Gedanken und Erkenntnisse vieler bekannter Philosophen und Denker versammelt, zum Beispiel von Marc Aurel, Buddha, Seneca, Kant und Rilke bis hin zu Christian Morgenstern und vielen, vielen anderen.
Ich schlug es auf und las eine Weisheit von Marc Aurel (121 – 180). Bewundernswert, wie sie für mich den Punkt traf – etwas Zeitloses, das über viele, viele Jahrhunderte hinweg Gültigkeit hatte.
Hatte. Es durchfuhr mich wie ein Blitz. Hatte. Es hatte Gültigkeit, doch heute hat es keine mehr. Nicht mehr wirklich. Nicht, dass der rein sprachliche Sinn dieses und vieler anderer Zitate in dem Büchlein heute gänzlich unverständlich wäre. Doch der Spruch hat keine Bedeutung mehr. Es sind einfach nur noch schöne Worte, nichts weiter. Etwas schön Anzuschauendes wie eine alte DM-Banknote, die man ja immerhin noch mit etwas Aufwand in Euros umtauschen kann. Es ist etwas schönes Altes, aber es hat für heute keine Bedeutung, keine Gültigkeit mehr.
Diese Weisheiten stammen noch aus der Zeit der Bedeutungen. Im Zeitalter der Symbole haben sie nurmehr Nostalgiewert, wie ein schöner alter Gegenstand vom Flohmarkt. Sie sind heute eine »Meinung« unter vielen anderen, und nichts mehr, das zeitlos, eine universelle menschliche Erkenntnis wäre. »Alles was zählt ist das Styling«, las ich vorhin an der Scheibe eines Friseursalons in Berlin-Wedding. Dieser Satz klang für mich zunächst selbstironisch, ist aber wohl durchaus ernst gemeint. Er bringt im wörtlichen wie übertragenen Sinne auf den Punkt, um was sich heute fast alles dreht. Wirkliche Inhalte, wirkliche Bedeutungen sind nebensächlich, ja irrelevant geworden. Mehr noch, oft scheinen diese sogar zu stören, wenn nicht gar zu verstören. Alles was zählt ist die Präsentation, die Show, das »Image«, das (Ab-) Bild – der Eindruck, den wir von einer Sache, einer Person bekommen sollen.
Da gab es eine Zeit, die irgendwann in den vergangenen dreißig Jahren unwiderruflich zu Ende ging, eine Zeit, in der das Sein immerhin noch eine gewisse Bedeutung hatte. Nur in diesem Zusammenhang ergeben die Weisheiten in dem Büchlein wirklich einen Sinn, nur auf diesem Hintergrund haben sie ihre universelle, zeitlose Bedeutung. Heute, wo die Symbolik des Scheins und das »Haben« der Maßstab aller Dinge geworden sind, sind sie nicht viel mehr als nettes, unterhaltsames poetisches Geplätscher aus einer vergangenen Epoche, von dem aus sich kaum noch ein tiefer Bezug zu unserem heutigen Leben herstellen lässt.
Irritiert schlug ich das kleine Buch zu. Der Schock, den diese Erkenntnis ausgelöst hat, sitzt mir immer noch in den Knochen, selbst jetzt, wo längst der Abend sich senkt.
Nachtrag 7.11.12: Obwohl keine »Erklärung« für meine Gedanken und Gefühle, so könnte es doch ein wenig erhellend sein, ergänzend diesen Artikel von Sascha Lobo zu lesen.