Freitag, 25. März 2011
Weg
Weg
Sonnenschein. Ich genieße das Dahinrollen auf dem Fahrrad. Der Verkehr rauscht in Schüben an mir vorbei, wie die Gedanken durch meinen Kopf:
Es gibt da einen großen Unterschied zwischen einer Erinnerung/Beobachtung aus der Zeit, als ich jung war, und dem, was ich heute wahrnehme. Selbst auf die Gefahr hin, als der lamentierende Alte (»Früher war alles besser … !«) abgetan zu werden, will ich meine Eindrücke mal näher erläutern.
Ja, auch als ich in der Pubertät war, pflegten sich vor allem die Jungen voreinander zu produzieren, und zumindest hin und wieder war ich einer von ihnen. Das taten sie vor allem, wenn sie in einer Gruppe zusammen waren. Jeder stellte sich dar, wollte »der Größte« sein – mal sehr penetrant, mal eher dezent vorgebracht.
Sah ich einen von ihnen alleine auf der Straße, ohne die Gruppe, war mein Eindruck jedoch in der Regel ein anderer: Da war ein Junge bzw. junger Mann, der nun gar nichts Protziges ausstrahlte, ja oft sogar regelrecht ruhig und bescheiden wirkte, sehr menschlich. Einfach er selbst, mehr oder weniger in Gedanken versunken, in diesem Moment bei sich.
Heute sehe ich wieder die Jungen – ich schließe hier ausdrücklich auch die Mädchen und jungen Frauen mit ein – in Gruppen zusammen stehen. Jede(r) will vor den anderen Eindruck schinden, cool sein. Gut, das hatten wir schon, siehe oben.
Doch etwas fehlt. Was ist es? Sehe ich heute Jugendliche (und bei weitem nicht nur sie) alleine auf der Straße gehen, so strotzen sie meist vor Selbstvertrauen, zumindest soll es so erscheinen. Sie produzieren sich dabei in allem, was ihre Erscheinung ausmacht. Zwar ohne Worte und direkte Reaktionen auf die anderen auf der Straße, doch ansonsten vom Habitus her genau so, wie ich es von früher und auch heute aus den Gruppensituationen kenne. Allerdings haben sie kein Gegenüber, auf das sie sich beziehen. Doch sie geben sich so, als wäre da eines. Brauchen sie womöglich keines mehr?
»Kamera läuft« las ich vor vielen Jahren ein Graffito, zu der Zeit, als es noch hier und da Wandsprüche gab und nicht nur die letztlich phantasielosen »ICH!!!«, ICH!!!«-Kringel überall. »Kamera läuft« heißt es, wenn die Filmaufnahme beginnt, im englischen Sprachraum auch kurz und bündig »Action!«. Die Schauspieler beginnen, die einstudierten Rollen zu spielen. Doch auf welche Kamera beziehen sich die Leute hier auf der Straße? Vielleicht hat ja die steigende Zahl der Überwachungskameras dazu beigetragen, dass man/frau immer gut aussehen und cool sein muss und nie aus der Rolle fallen darf? Wer weiß denn, wer das anschaut?
Für mich sieht es so aus, als bewegten sich sehr viele immerzu vor einem imaginären Spiegel, in den sie schauen und kontrollieren, ob sie auch gut »’rüberkommen«. Keine Haarlocke darf aus der gewählten Position verrutschen, die Markenkleidung muss sitzen, jede Bewegung, jeder Blick überlegen und souverän sein.
Nun bezweifle ich aber doch sehr, dass all das durchgehend bewusst passiert. Wir sind Menschen (noch), da kann unsere Aufmerksamkeit mal abschweifen, wir mal nicht bei der Sache sein, mit den Gedanken woanders. Die unglaubliche Beständigkeit, mit der ich das Beschriebene wahrnehme, lässt für mich daher nur einen Schluss zu: Das muss auf etwas zurückgehen, was immer da ist, was nicht mehr bewusst kontrolliert zu werden braucht. Also auf so etwas Elementares wie Bewusstsein und Identitätsgefühl.
Um an meine einleitende Beobachtung von damals anzuknüpfen – es muss sich also etwas Wichtiges verändert haben. Etwas, das damals nur zeitweise und offenbar relativ bewusst getan wurde, wird heute dauernd und offenbar weitestgehend unbewusst getan.
Das lässt für mich nur den Schluss zu, dass sich am Bewusstsein und Identitätsgefühl vor allem der jungen Menschen etwas Wesentliches geändert haben muss. Was das ist, kann ich nur vermuten. Es ist wohl weniger, dass etwas anders ist als damals, sondern sich etwas damals schon Vorhandenes erweitert, ausgebreitet haben muss. Eine Balance hat sich verschoben. Ob man das gut findet oder eher nicht, ist eine andere Geschichte. Hin und wieder bin ich ein wenig neidisch, meistens jedoch eher traurig.
Ist das unser Weg? Mir scheint, etwas Wichtiges ist verschwunden. Weg.