Donnerstag, 17. März 2011

Was ist Missbrauch?

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Dieser Text entstand zur Zeit des großen Aufruhrs um Missbrauch bei den Kirchen, doch auch in weltlichen Institutionen wie der »Odenwaldschule«. Das Thema ist zwar heute aus den Schlagzeilen, doch nicht vom Tisch. Neben berechtigter Empörung über Übergriffe und Vergewaltigungen hege ich aber auch den Verdacht, dass es nach wie vor dazu missbraucht wird, um missliebige Personen und Institutionen politisch in die Schusslinie zu ziehen. Bei aller Kritik ist also Wachsamkeit sehr empfehlenswert.

Einige Gedanken zum gegenwärtigen Aufruhr in den Medien um den Missbrauch von Kindern

Was ist »Missbrauch«? Ab wann ist eine Handlung Missbrauch? Gibt es überhaupt klare Grenzen? Und warum sehen wir Missbrauch in erster Linie im Zusammenhang mit Sexualität, viel seltener dagegen im Zusammenhang mit rein physischer und psychischer Gewalt? Und was hat es damit auf sich, dass sexuelle Gewalt als »Schändung« bezeichnet wird, nicht-sexuelle aber nicht? Was macht Sex so »schändlich«?

Mich wundert, warum gerade jetzt diese hitzige Diskussion aufflammt. Wieso jagt eine Meldung die andere? In allen möglichen Institutionen, kirchlichen wie weltlichen, werden Missbrauchsfälle aus der Vergangenheit publik. Die weitaus meisten liegen dreißig, gar über vierzig Jahre zurück. Vieles war schon bekannt, in kleineren Meldungen sogar bereits publiziert, hatte lokal (oftmals berechtigte) Empörung ausgelöst. Priester und Lehrer waren versetzt worden, Gerichtsverfahren fanden statt.

Doch all das war nach meiner Erinnerung nicht vergleichbar mit der jetzigen Welle des Aufruhrs, ja der Hysterie. Es gibt (mal wieder) die Tendenz, jeglichen erotisch gefärbten Kontakt zwischen Kindern und Erziehungspersonen als »Schändung« und »Missbrauch« zu brandmarken. Man tut – auch das hatten wir schon mal – so, als ob Kinder reine, unschuldige Wesen seien, die mit der »bösen« Sexualität am Besten erst als junge Erwachsene konfrontiert werden sollten. So etwas wie kindliche Neugierde wird in der Regel nicht mal erwähnt. Dass die Realität gerade heute völlig anders aussieht, wird jeder wissen, der sich ein wenig mit den sozialen Entwicklungen der vergangenen acht bis zehn Jahre beschäftigt hat. Im Medienzeitalter haben oft schon Sechsjährige mal einen Hardcore-Porno gesehen – zum Beispiel auf dem Handy von älteren Geschwistern oder Mitschülern.

Ja, ich gebe zu, das ist ein vermintes Terrain, und die Grenze zwischen einer angemessenen Reaktion auf kindlichen Forscherdrang und Neugierde und Missbrauch lässt sich zuweilen nur schwer ziehen. Ein einfacher Verweis auf das Strafgesetzbuch mit seinen Altersgrenzen kann hier nur bedingt weiterhelfen. Und sehr schnell geraten zur Zeit auch die sogenannten »Reformpädagogen« in die Schusslinie der Kritik – seien sie es doch gewesen, die mit ihren libertären Ideen dem Missbrauch von Kindern Tür und Tor geöffnet hätten.

Doch das greift m.E. zu kurz und erinnert mich an die auch seit einiger Zeit wieder mal aufgetischte These, (fast) alle unsere heutigen gesellschaftlichen Probleme hätten irgendwie mit den »68ern« und ihren Ideen zu tun. Oder etwas vereinfacht ausgedrückt: Ohne deren »verrückte Ideen« und ihre »sexuelle Revolution« wäre die Welt heute weitgehend in Ordnung. Wie wunderbar, es sich so einfach zu machen.

Abgesehen davon, dass nach meinem Dafürhalten »die 68er« nicht als eine homogene Gruppe existieren, sondern bestenfalls für die allgemeine Aufbruchsstimmung vieler jüngerer Menschen in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren stehen können, machen es sich die Vertreter dieser Meinung ein wenig sehr einfach. Es läuft letztlich darauf hinaus zu sagen: »Hätte man sich nur an die bewährten Traditionen gehalten, dann wäre alles gut!«. Nur, was sind das für Traditionen? Mir fallen sogleich etliche Geschichten ein, die sich die heute Jüngeren nicht mal mehr vorstellen können. Anfang der siebziger Jahre, als ich sechzehn, siebzehn war, spukten die Ideale der Nazis noch in den Köpfen der meisten Älteren und oft genug in modernisierter Fassung in denen vieler Junger herum. Sprüche wie »Geh’ doch nach drüben!« (das meinte, in die DDR) waren noch harmlos. Denn auch Kommentare wie »So was wie Dich hätte man damals an die Wand gestellt!«  oder »Dich ham’ se vergessen zu vergasen!« musste ich mir bis weit in die siebziger Jahre hinein des Öfteren anhören.

Mir fällt dazu auch der Riesenhype ein, der Ende 2007 zunächst entstand, als die Polizei bei der »Operation Himmel« einen angeblich riesigen Kinderporno-Tauschring mit circa 12.000 Verdächtigen allein in Deutschland ausfindig gemacht haben wollte – übrigens mit Hilfe der Internet-Provider. Schon nach kurzer Zeit stellte sich heraus, dass von den vielen Verdächtigen nur sprichwörtlich eine Handvoll übrig blieb, denen man tatsächlich nach dem STGB den Prozess machen konnte. Alle anderen Ermittlungsverfahren wurden eingestellt.*

Vorhin las ich den Beitrag des österreichischen Autors Joseph Haslinger vom 13. März 2010 in der »Welt«, für den ich ihm sehr dankbar bin. Er beschreibt darin eigene Erfahrungen seiner Jugend mit einem jungen Lehrer seiner Internatsschule, und welche ambivalenten Gefühle sie bei ihm auslösten. Weiter sagt er, dass er rückblickend zwar von den sexuellen Erlebnissen dieser Zeit verwirrt gewesen sei, doch »die moralische Verstörung war weitaus größer als die erotische Konfusion«. Selbstverständlich will er damit keinesfalls Pädophilen freie Hand geben, doch er ruft zu einem Blick auf die Gegenwart und zu genauem Hinschauen auf. Sein Artikel trägt den treffenden Titel »Jetzt bloß keine Hexenjagd«.*1

Eher zwischen den Zeilen kommt dies auch beim Beitrag von Bodo Kirchhoff heraus. So wie ich ihn verstehe, fühlte er sich maßlos überfordert und eben missbraucht, als ein Erwachsener ihm sein Verständnis von Sexualität aufzwang – vielleicht war er dafür körperlich schon so weit, doch psychisch noch lange nicht. Das erinnert mich an meine eigenen Gefühle mit ca. 12 Jahren, wo ich zwar merkte, dass »das da unten« sich veränderte und auch schleichend sich neue, unbekannte Gefühle einstellten, wie ich rückblickend sagen kann. Doch innerlich war ich noch Kind, wäre mit einem Erwachsenen, der mich sexuell »überrumpelt«, unsäglich überfordert gewesen, hineingestoßen gegen meinen Willen in eine Welt, in die ich erst in meinem Tempo hineinwachsen wollte.*2

Überhaupt – dieser Rückblick scheint mir wichtig. Ich kann inzwischen auch aus als schlimm erlebten Dingen meiner persönlichen Geschichte so etwas wie eine Frucht, einen »Nutzen« ziehen, ohne sie deshalb gleich pauschal gutheißen zu müssen. Das heißt, ich kann Ambivalenzen aushalten. Dazu musste ich jedoch aufhören, mich als Opfer zu sehen. Dieser Prozess ist nach wie vor im Gange und kein Ende abzusehen. Ich kann mir vorstellen, dass es etliche Menschen gibt, die diesen Schritt noch nicht getan haben oder nicht tun wollen. Ob jemand diese Sicht der Dinge nun gut findet oder nicht – mir hilft er, mein Leben mehr und mehr anzunehmen und mich dankbar zu fühlen – auf eine Weise auch für das, was weniger schön war.

Natürlich gibt es guten Grund, Missbrauchsfälle ins Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Doch wie ich oben schon angedeutet habe, ist das gesamte Thema zu komplex, um es mit dem Gesetzbuch in der Hand abschließend beurteilen zu können. Wer fragt denn im allgemeinen Aufruhr nach: »Was genau ist passiert? Welcher Schaden ist entstanden?« Dann könnte ein ungefähres Bild dessen entstehen, was zwischen dem Älteren und dem Jüngeren vorgefallen ist. Womöglich stellt sich dann heraus, dass die Schuld des Älteren weniger groß ist als auf den ersten Blick angenommen. Ich rede hier jetzt allerdings nicht von eindeutig gewalttätigen Übergriffen, die unter dem Sammelbegriff »Vergewaltigung« subsummiert werden können. So etwas schönreden hieße diese Verbrechen ideell noch einmal zu begehen.

Mir scheint die allgemeine Haltung jedoch eher in diese Richtung zu gehen: Kind plus Sexualität ist gleich Missbrauch. Wir tendieren dazu, nur nach dem »Was« zu fragen und nicht nach dem »Wie«. Dabei ist m.E. das »Wie« viel wichtiger als das »Was«. Ist es zum Beispiel Missbrauch, wenn ein Kind neugierig nach dem Penis seines nackten Vaters greift?

Nach unserem jetzigen Verständnis offenbar ja. Etwa so: Der Vater habe sich schuldig gemacht, indem er dem Kind überhaupt die Möglichkeit gab, das zu tun. Ich meine jedoch, dass dies nichts mit Missbrauch zu tun hat. Solange der Vater die Neugierde des Kindes akzeptiert und es ansonsten seinerseits in Ruhe lässt, wird dem Kind wohl kaum irgendein Schaden zugefügt, eher das Gegenteil. Ganz anders sähe es hingegen aus, wenn der Vater nun seinerseits dem Kind an die Genitalien fassen würde oder gar noch weiter ginge. Auch ich empfinde es als Missbrauch, wenn Erwachsene Kindern ihre Sexualität explizit aufnötigen – selbst in dem Fall, dass diese dabei »nur« Zuschauer sein müssen.

In dem Moment, wo Erwachsene vom Reagieren auf ein Kind zum eigenen (sexuellen) Agieren gehen, besteht die Gefahr des Missbrauchs, der Vergewaltigung und völligen Überforderung für das Kind. Diese Grenze verschiebt sich natürlich mit dem Älterwerden, und vor allem in der Pubertät, immer mehr in Richtung auf ein »erwachsenes« Verständnis von Sexualität. In meinen Augen ist es aber die große Herausforderung für alle, die mit Kindern umgehen, zu erkennen und zu fühlen, wann diese Grenze erreicht ist.

In dieser zunehmend allgegenwärtigen Hysterie kann jedoch schnell eine Atmosphäre von Verdächtigungen und Denunziation entstehen. So wie ich aufgewachsen bin, mit Eltern, die ein sehr entspanntes Verhältnis zum Nacktsein hatten, würden diese in dem heutigen Klima wohl allein deswegen mit einem Bein im Gefängnis stehen. Und das, obwohl Sex gegenüber uns Kindern ein Tabuthema war und meine Eltern ihr Sexleben geradezu vor uns Kindern abschotteten. Erst als mein Bruder und ich schon in der zweiten Hälfte unserer »Teeniejahre« waren, bekamen wir hier und da ein bisschen was mit. Vielleicht hatten wir ja auch erst dann überhaupt so etwas wie ein Bewusstsein dafür.

Mir selbst hat dieses Tabu insofern geschadet, als ich mir dann in der Pubertät über Jahre meine Schuldgefühle und meinen Ekel vor mir selbst abtrainieren musste. Als ich mit etwa dreizehn Jahren beim Herumspielen an mir meinen ersten Samenerguss hatte, schämte ich mich in Grund und Boden. Ich hatte keine Ahnung was das bedeutete und fasste danach über Monate meinen Schwanz nur zum Pinkeln und zum Waschen an. Doch schon bald nach meinem ersten bewusst ausgelösten Erguss begann ich »feuchte Träume« zu haben, die anfangs auch noch stark angstgeprägt waren. Meine Mutter sah natürlich die Flecken in meinen Schlafanzügen, druckste herum und legte mir diskret nahe, diese gleich in die Wäsche zu geben, »wenn mir mal wieder was passiert« sein sollte.

Da ich in dieser Zeit alleine war, kam ich erst nach und nach durch das Getuschel und die Anspielungen meiner Schulkameraden darauf, dass das alles wohl doch nicht so schlimm sei, ja dass es womöglich sogar etwas Lustvolles sein könnte. So probierte ich dann weiter aus, diesmal mit einer zunehmend lustvollen Neugierde, was es denn mit diesen Gefühlen und körperlichen Reaktionen auf sich hatte. Doch bis ich schließlich zu einem entspannten Verhältnis zu meinem Körper und meiner Sexualität fand, sollte noch einige Zeit vergehen. Zunächst einmal entwickelte ich einen Waschzwang. Nach dem Onanieren ging ich eine Zeitlang immer gleich duschen und habe mir mehrmals hintereinander die Hände gewaschen …

Wieso erzähle ich das hier überhaupt? Ich will aufzeigen, dass das Thema »Sexualerziehung« sehr vielschichtig ist. Dass die kleinen Kinder nicht vom Klapperstorch gebracht werden, hatte mir meine Mutter schon erklärt, als ich noch ein kleiner Junge war. Doch das reichte bei weitem nicht aus, um mich auf das vorzubereiten, was mit mir und meinem Körper während der Pubertät geschah. Immerhin konnte ich dann mit 16, 17 Jahren meinen Vater auch mal gezielt fragen, und er gab mir wohl nach bestem Wissen und Gewissen Auskunft. Als Arzt konnte er Informationen aus diesem Bereich auch recht nüchtern vermitteln. Und so leicht aus der Ruhe bringen konnte ich ihn damit auch nicht, dazu hatte er im Laufe seines Lebens einfach zuviel gesehen und erlebt.

Zurück zu meiner eingangs gestellten Frage. Warum dieser Wirbel, gerade jetzt? Nachdem der Vorstoß von Herrn Schäuble und Frau v. d. Leyen, unter dem Vorwand der Kinderpornografie-Bekämpfung die Grundlagen für eine umfassende Internet-Zensur einzuführen, erst mal gescheitert sind, sehe ich dies vor allem als weiteren Versuch, von einer in meinen Augen nach wie vor wichtigen Diskussion – nämlich der über so etwas wie einer »erotischen Kultur« – abzulenken und stattdessen konservatives Gedankengut im Rahmen dieser – ja, was eigentlich … Kampagne? – unters Volk zu bringen. Die Zeit scheint offenbar reif dafür.

 

* Siehe dazu einen Artikel bei Spiegel Online

*1 Siehe dazu einen Artikel bei Welt Online

*2 Siehe dazu einen Artikel bei Spiegel Online


(Leicht überarbeitet am 17.3.11)

 

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