Donnerstag, 17. März 2011

Dritter Oktober

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Dritter Oktober

Wir waren verabredet. Als es dunkel wurde, fuhren wir mit der S-Bahn zum alten Lehrter Bahnhof, heute verschwunden und stattdessen Berliner »Hauptbahnhof«. Wir, das waren ein Freund aus Ostberlin, seine Mutter sowie Freunde von ihm aus Polen – zwei Frauen und ein Mann. Und ich.

Auf dem Weg zum Reichstag kamen uns etliche Leute mit schwarz-rot-goldenen Fahnen entgegen. Ich dachte kurz daran, ob wohl einige die Feier zu einer nationalistischen Kundgebung nutzen würden, doch es gab keine Anhaltspunkte dafür. Alle waren friedlich.

Der Platz vor dem Reichstag war schon voller Menschen, der Reichstag selbst feierlich angestrahlt. Mir wurde schnell kalt, doch die Besucher aus Polen hatten was zum Wärmen eingepackt. Eine Wodkaflasche machte die Runde, und bald waren wir alle angenehm beschwipst. Die Kühle des Abends verhinderte jedoch, dass der Alkohol allzu große Wirkung hatte. Und guter Wodka war es außerdem.

Als dann um Mitternacht die Vereinigung verkündet wurde, war es auch für mich ein ganz besonderer Moment. Erinnerungen an die vielen Besuche im »Osten« huschten vor meinem inneren Auge vorbei. Die Ansprachen der Politiker gingen weitgehend im Jubel unter, zum Glück waren sie nur kurz. Feierliche Musik erklang, das Feuerwerk leuchtete und knallte, und mir rollten die Tränen herunter.

Später gingen wir alle zusammen Unter den Linden entlang. Die Straße war gesäumt von Imbissbuden aller Art. Wir begegneten vielen freundlichen Menschen, vielleicht hatte das auch damit zu tun, wie ich sie anstrahlte. Irgendwann zu vorgerückter Stunde kamen wir in Höhe des Lustgartens an, und ich hatte das Gefühl, jetzt würde etwas kippen. Ich hörte Gegröle à la »Deutschland, Deutschland!«. Es war ausgekostet, und wir machten uns auf den Weg nach Charlottenburg, zur Wohnung der Mutter meines Freundes. Seit ihrer abenteuerlichen Flucht über eine der deutschen Botschaften im Ostblock wohnte sie dort.

Es stellte sich heraus, dass an ihrer Wohnungstür von innen ein Schlüssel steckte und wir ausgesperrt waren. Ein Fenster stand jedoch offen, und da die Wohnung im 1. Stock lag, gelang es mir mit Hilfe eines Brettes von einer Baustelle nebenan, hineinzukommen und die Türe von innen zu öffnen.

Wir machten es uns am Wohnzimmertisch bequem, tranken Wodka, und dann holte jemand von unseren Gästen eine Flasche Weingeist hervor – 96 Prozent Alkohol. Wäre ich nüchtern gewesen, so hätte ich abgewunken, doch schon prosteten wir uns mit etwa halbvollen Senfgläsern zu. Es brannte höllisch, doch zu meiner Überraschung war mein Glas daraufhin leer. Wir beschlossen kurz darauf, uns nun schlafen zu legen und verteilten uns auf die Räume. Zwischen einer der beiden Frauen aus dem Nachbarland und mir hatte es zunehmend geknistert, und der Alkohol half uns beiden wohl noch etwas nach. So landeten wir zusammen in einem schönen großen Bett. Im Nu waren wir nackt und lagen uns in den Armen und … Filmriss. Das bekam ich irgendwie noch mit, dann wurde es schwarz um mich.

Am nächsten Morgen, am Tag der deutschen Einheit, wachte ich mit einem schrecklich dicken Kopf auf. Als ich mich ins Bad schleppte, sah ich, dass die anderen schon am Frühstückstisch saßen. Eine gute halbe Stunde später, nach viel Wasser und einer großen Tasse Kaffee, fühlte ich mich halbwegs beieinander. Nicht nur Deutschland, auch ich war wieder eins.

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