Sonntag, 12. Oktober 2025
Takt
Takt
Takt? Was bedeutet das? Nun, es gibt »Takt« in der Musik, zum Beispiel den Walzer- oder Dreiviertel-Takt. Und »Takt« bedeutet im Deutschen auch so was wie »Verständnis«, »Rücksichtnahme«, »Mitgefühl«. Weiter gibt es das Wort »intakt«, heute kaum noch gebräuchlich. Es bedeutet »heil«, »ganz«, »funktionierend«.
Wie ich auf solches Geschwurbel komme? Nun, ich suchte nach einem Begriff, einem Wort, das meinen derzeitigen Wahrnehmungen und Gefühlen möglichst nahe kommt. Also einer möglichst brauchbaren Umschreibung. Bewusst sage ich »Umschreibung« und nicht »Beschreibung«, denn mit Worten wirklich »gefasst« bekomme ich das nicht.
Nun, am nächsten komme ich mit dem Bild »Die Dinge, die Menschen sind aus dem Takt«. Aus einem inneren Takt, der sich auf so was wie eine innere Mitte bezieht. Also einem Takt, der als »Kontrast« zu einem Ruhepol, einer Stille zu verstehen ist. Oder auch als ein Maßstab, ein menschliches Maß, einem aus einer wortlosen Weisheit kommenden gesunden Menschenverstand, der uns leitet zu verstehen was uns gut tut und was (eher) nicht.
Vor ein paar Wochen sprach ich auf einem Festival mit einer jungen Frau. Sie hatte sich beklagt, es sei abends so laut, dass sie nicht schlafen könne. Daraufhin meinte ich zu ihr, sie könne sich doch Ohrstöpsel reintun. Nein, das ginge gar nicht, meinte sie daraufhin etwas schroff. Dann würde sie ja ihren Herzschlag und ihren Atem hören, und das mache ihr sofort klaustrophobische Zustände …
Nun, das ist vielleicht nur eine anekdotische Begegnung gewesen, und ich komme zudem aus einer anderen Zeit. Für mich hat es etwas Beruhigendes, meinen Herzschlag und meinen Atem bewusst wahrzunehmen, meinen inneren »Takt«. Doch unseren inneren »Takt« zu hören ist generell ein Unding, ein No-Go geworden. Unser »Kopf« hat seinen eigenen Takt, und der kann nicht schnell und willensbetont genug sein.
Wir tun daher inzwischen Dinge, nur weil sie möglich sind – ohne Nachdenken, ohne uns zu fragen, wohin das führen könnte. Hauptsache, wir fühlen uns dadurch ermächtigt. Daher scheint es mir heute eine wichtige Voraussetzung zu sein, keine Maßstäbe mehr zu haben, ja diese rundheraus abzulehnen. Denn Maßstäbe sind ja (letztlich) auch Grenzen, so was wie Fixpunkte der Orientierung, deren Versetzen wohl überlegt sein will – nun, sein sollte.
Aber das geht heute gar nicht mehr. Alles ist selbstreferentiell geworden; Kontext, größere Zusammenhänge und wohlbegründete Argumente werden höhnisch als Quatsch, »Whataboutismus« und »Geschwurbel« abgetan: Man weiß. Punkt. Ende. Fertig. Keine Diskussionen. Hauptsache, man steht auf der »richtigen« Seite. Dann ist alles okay.
Ich alter Sack vermisse die Zeit(en), als das noch anders war. Als es diesen leisen inneren »Takt« in den allermeisten Menschen noch gab, diese mehr oder weniger leise Mitte, aus der heraus wir menschlich waren. Heute hat das pausenlose Gedudel und Getöse, im wörtlichen wie übertragenen Sinne, diese Stille gefüllt und obsolet gemacht; es pampert und päppelt dieses Gefühl von Ermächtigung und Berechtigung, vom Star-Sein im eigenen Lebensfilm.
Und die VIPs bestimmen, wen sie um sich her dulden, ja, wen sie überhaupt wahrnehmen. Wer überhaupt als ein Gegenüber respektiert wird und einem nicht nur als ein Fleisch gewordenes Hindernis im Weg steht. Diese Entwicklung, die ich schon vor Jahren mal mit einer Polemik umrissen hatte, ist heute leider (aus meiner Sicht zumindest) keine Polemik mehr, sondern eher eine spitz formulierte Beschreibung des Ist-Zustandes.
Die Leute und die Welt sind aus dem Takt, und gleichzeitig auf einer anderen Ebene in eine Konformität gestürzt, die ich niemals für möglich gehalten hätte. Dabei scheint mir das Selbstgefühl so gut wie Aller aber exakt das Gegenteil zu sein. Ich bitte die gefühlt hundertste Wiederholung zu entschuldigen, aber ich sehe eine Unmenge »eingenordeter« Menschen um mich her, die sich als stolze Individualisten begreifen.
Eigentlich eine schöne (neue) Welt: Lauter Könige und Königinnen, Prinzen und Prinzessinnen, alle einem Bewusstseinszustand verschworen, der wohl dem auf Kokain sehr nahe kommt. Ihre Droge ist in ihrem Leben allgegenwärtig; sie widmen ihr jede freie wache Sekunde. Ich fürchte, ohne sie werden die weitaus meisten psychisch abstürzen. Schon länger drängt sich mir der Verdacht auf, »Depression« als Massenphänomen bezeichnet in erster Linie den Zustand, mal aus jenem Bewusstseinszustand »herauszurutschen« und nicht sofort wieder »hineinkommen« zu können.
Und das will in unserer Welt was heißen, in der inzwischen so gut wie alles darauf angelegt ist, uns in diesen Bewusstseinszustand zu bringen und dort zu halten … Bei sich zu sein ist heute in vielerlei Hinsicht die ultimative Provokation.