Donnerstag, 3. August 2017
Alles ist Anders geworden
Alles ist Anders geworden
»Tee, sehr, sehr anders!« schreit es von der Litfassäule um die Ecke. Untertitel: »Carpe Diem«. Auch überall sonst: »Ganz nach Deinem Geschmack!« »Besonders!« »Individuell!«
Die Werbung ist voll davon. Wohin ich schaue – alles ist anders, individuell, besonders. Und auch die weitaus meisten Menschen schreien es regelrecht hinaus – nonverbal durch ihr Outfit, ihr Gehabe, ihre Posen, dabei kraftvoll unterstützt durch Requisiten wie Sonnenbrillen, Ohr- oder Kopfhörer, Basecaps. Tattoos und gewagte Piercings sind inzwischen ab einem bestimmten Alter abwärts ein Muss, um dazuzugehören. Wenn meine Eindrücke auch nur ansatzweise stimmen, dann werden Gesichts- und Kopftattoos in spätestens einem Jahr Mainstream sein.
Anders sein ist angesagt, anders geht es gar nicht. Dieses Anders muss aber unbedingt kategorisierbar sein, sich einer bestimmten, als angesagt geltenden Kategorie, einem als cool definierten Spektrum zuordnen lassen. Sonst wird es disqualifiziert, abgelehnt. Es ist dann nicht »individuell«, denn es ist nicht vergleichbar, befindet sich nicht im Spielfeld.
Ich gehöre qua Alter, aber auch wegen meiner Weigerung, auf diese Weise »anders« zu sein zu denen, die nicht anders sind. Die nicht dazugehören – na ja, bestenfalls am Rande. Zu denen, die den Kontrast bieten, damit sich die große Mehrheit »anders« fühlen kann. Denn wie kann man dazugehören, sich anders fühlen, ohne dass es welche gibt, die nicht anders sind?
Wie seltsam. Ich bin derjenige, der sich dauernd anders, fremd fühlt. Der nicht »anders« ist und gerade deshalb den meisten ihr Anderssein beweist: als ein lebender Beweis, dass alles anders geworden ist …
Nachtrag 1.3.18: Gerade las ich beim Guardian einen Auszug aus dem Buch »Political Tribes« von Amy Chua, das sich mit dem beschäftigt, was »Identity Politics« genannt wird. Bei Identity Politics geht es um Gruppenermächtigung gegenüber den »Anderen« – etwas, das in den späten Siebzigern begann und sich inzwischen verselbstständigt hat. Ähnlich wie bei der Ermächtigung und »Individualisierung« des/der Einzelnen geht es hier um Souveränität, aber auf Gruppenebene. Statt »ich gegen dich« »wir gegen sie« – klassisch und sehr menschlich. Man möchte nicht ein Teil der großen Menschheit werden, sondern als besonders anerkannt und behandelt sein. Weil man schwarz ist oder weiß, schwul oder hetero, links oder rechts, und so weiter. Natürlich sehe ich ein, dass es wichtig ist, die eigene Geschichte einzubringen. Nur wie das geschieht, finde ich sehr bedenklich: Es geht dabei nicht um Austausch und Versöhnung, sondern um Machtpositionen, um Definitionshoheit, ums Recht haben.
»Wie sich die US-amerikanische Identitätspolitik wandelte – von der Inklusion zur Zersplitterung« heißt es im Titel des Artikels. Die Autorin warnt dort, dass diese soziale Entwicklung eine zunehmend gefährliche Situation schaffe, die weiterer Zersplitterung, Polarisierung und Fanatismus Vorschub leiste. Sie sieht diese Dynamik (mit unterschiedlichen Schwerpunkten) sowohl im linken wie im rechten politischen Spektrum wirken und vermutet, dass die damit verbundene, sich gegenseitig hochschaukelnde Ignoranz auf beiden Seiten Trumps Präsidentschaft erst möglich gemacht hat. Und zur Zeit ist kein Einlenken und Verstehen auf breiter Ebene abzusehen. Martin Luther King, der ein freies und gerechtes Amerika für Alle postulierte, eine USA der Inklusion, würde sich wohl im Grabe umdrehen, heißt es sinngemäß im Text.
Nachtrag 12.3.18: Wir leben im Zeitalter der Postmoderne. Wer sich für deren geisteswissenschaftliche Hintergründe näher interessiert, der/die kann sich hier in diesem sehr langen Text von John Zerzan (auf Englisch) einen guten Überblick über die jeweiligen geistigen Strömungen und deren Repräsentanten verschaffen. Mir brachte der Text gleich mehrere »Aha«-Erlebnisse. Für mich ist es weniger wichtig, ob Zerzan in jedem Punkt Recht hat, als dass er mir das Begreifen einer Entwicklung ermöglichte, die ich auch jetzt noch nicht völlig, aber immerhin wesentlich besser verstehe als vorher.
Nachtrag 10.11.18: Sibylle Berg hat mal wieder einen Artikel in ihrer Kolumne veröffentlicht, der mir gut gefällt und der gut zum Thema passt. Dieses ganze »Ingroup – Outgroup«-Verhalten, sehr menschlich und uns wahrscheinlich in die Wiege gelegt, hat sich ja in modernem Gewand mit Macht zurückgemeldet, nachdem es in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren immerhin mal ein öffentliches Thema war. Das ist lange her. Gruppen: Entweder du gehörst dazu, oder du gehörst nicht dazu. Wenn du »nicht dazu gehörst« und auch keine andere Gruppe hast, zu der du dich zugehörig fühlst, wird es gemeinhin schwierig, und du hast in der Regel nichts zu Lachen. »Freiheit ist immer Freiheit des Andersdenkenden«, hat Rosa Luxemburg mal gesagt. Ich denke, der Satz ist heute noch mindestens so aktuell wie damals, auch wenn das mit Sicherheit viele ganz anders sehen werden.
7.8.19 – noch was zum Thema. Eben las ich einen Artikel aus Dr. Marty Kleins Blog zum Thema »Sexuelle Identität« (auf Englisch). Schon immer spielte das jeweilige Narrativ, mit dem wir uns identifizieren, eine zentrale Rolle im Leben der allermeisten Menschen. Heute hat das Ganze aber noch mal eine eigene Wendung genommen – leider in Richtung »mehr« Identität (wenn ich das mal so umschreiben darf) denn hin zu weniger. Die Chance, dass sich jemand persönlich angegriffen fühlt damit deutlich gestiegen.