Freitag, 27. Januar 2012
Völkermord ist Ansichtssache!?
Völkermord ist Ansichtssache!?
Gerade las ich diese Meldung: Der türkische Premier Erdogan schäumt vor Wut wegen eines Gesetzes, das Frankreich vor Kurzem verabschiedet hat. Dieses sieht eine Haftstrafe von einem Jahr und Geldstrafen bis zu 45.000 Euro für das Leugnen von offiziell als Genozid anerkannten Völkermorden vor. Dazu zählt auch der Genozid an den Armeniern durch das Osmanische Reich in den Jahren 1915 – 1917, dem mindestens 200.000, nach anderen Schätzungen sogar bis zu 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen.
Die Türkei als Rechtsnachfolger des Osmanischen Reiches leugnet dieses Verbrechen jedoch beharrlich, das ist dort Teil der offiziellen Staatsdoktrin. Etwa so: Jegliches Bezugnehmen auf diese Ereignisse sei ein Affront gegen die Türkei, eine Beleidigung der türkischen Ehre. Es gäbe keinen Genozid an den Armeniern, Punkt und aus. Wer das Gegenteil behauptet, sei ein Feind der Türkei. Erdogan bezeichnet folglich das (selbstverständlich nur auf dem Boden Frankreichs geltende) Gesetz als ein »Massaker an der Meinungsfreiheit«. Gut, Sarkozy und der türkische Premier haben offenbar auch unabhängig von diesem Gesetz wenig Sympathien füreinander, doch das ändert nichts daran, dass jedes Ansprechen des Genozids an den Armeniern bei vielen Türken ähnliche Reaktionen auszulösen scheint wie bei Erdogan. Konservative in Frankreich wiederum reagieren äußerst vergrätzt, wenn man sie etwa auf den Algerienkrieg und die dort von der »Grande Armee« verübten Gräuel anspricht.
Meinungsfreiheit. Es ist also Meinungsfreiheit, historische Tatsachen zu leugnen. Das ist es doch, oder? Was geht es andere, gar den Staat an, ob ich den Holocaust, den Genozid an den Armeniern oder andere Massenmorde leugne? Ist doch meine Meinung, oder? So what! Natürlich kann mir niemand in den Kopf schauen, und auch hier in Deutschland, wo zumindest das Leugnen des Holocausts strafbar ist, kann ich meine Meinung haben. Erst in dem Moment, in dem ich sie öffentlich mache, wird das alles justitiabel, also strafbar.
Nun stellt sich die Frage, mit welchem Recht das denn überhaupt strafbar sei? Es ist doch meine persönliche Meinung, wenn ich zum Beispiel behaupte, die systematische Vernichtung von geschätzten sechs Millionen Juden im dritten Reich hätte gar nicht stattgefunden, sei eine reine Propagandalüge. Und es ist meine Meinung, wenn ich sage, einen Massenmord an Armeniern hätte es nie gegeben, oder die Ureinwohner Nord- und Südamerikas seien »einfach so« verschwunden. Was also soll diese Einmischung des Staates in meine persönlichen Angelegenheiten? Den hat das nichts anzugehen. Bedeutet es doch nur, die Augen vor diesen Taten zu verschließen und sich mit den Mördern zu solidarisieren. Dass dies strafbar wird, darauf zielen gesetzliche Verbotsregelungen ab.
Irgendwann einmal vor über sechzig Jahren gab es, wohl auch getrieben von dem Blutschwall, den der zweite Weltkrieg über einen beträchtlichen Teil der Welt ergoss, eine Initiative, die nannte sich »Deklaration der Menschenrechte«. Es war nicht weniger als der Versuch, der »Meinung« von Einzelnen, Gruppen und Staaten einige universelle Maßstäbe darüber entgegenzusetzen, wie denn Menschen miteinander umgehen sollten. Etwas, das für alle gelten solle, egal ob Herrscher oder Untertan, Mächtiger oder Machtloser. Bislang setzte und setzt nämlich der die Maßstäbe, der das Sagen hat. Auf diesem Hintergrund war und ist das eine wahrhaft revolutionäre Idee, ein Meilenstein in der sozialen Geschichte der Menschheit. Es war ein erster Hinweis darauf, dass zumindest ein Teil der Menschen versuchte, Lehren aus der Geschichte zu ziehen.
Denn bislang war es (und ist es auch heute noch oft) eine Sache des Blickwinkels, ob man »Ungeziefer« und »Volksschädlinge« beseitigt – oder Menschen umgebracht hat, die einem aus welchem Grund auch immer lästig waren. Also alles eine Sache der Meinung? »Was dem einen sin Uhl, is dem anderen sin Nachtigall«, heißt ein Sprichwort im Deutschen. Mithin völlig egal – Mord hin, gute Tat her? Lass‘ doch jedem seine Meinung?!
Ich beginne erst langsam zu begreifen, was die auch damals (1948) schon ebenso begeistert begrüßte wie gleichermaßen heftig angefeindete Idee der »universalen Menschenrechte« bedeutet. Sie steht für nichts anderes als der »Meinungsfreiheit« des Mörders, Folterers und Despoten (oder deren Unterstützern) etwas entgegenzusetzen, etwas, das ihre »Meinungsfreiheit« einschränkt, ihre »Ehre« verletzt, die »Ehre« des Mächtigen, des Herren über Leben und Tod, des Gottes in Menschengestalt. Etwas, das ihm nicht passen kann, das ihn beleidigt, denn er will nicht irgendwelche »Luschen« oder »Ungläubige« darüber urteilen lassen, ob das, was er für gut und richtig hielt den »allgemeinen Menschenrechten« entsprach oder entspricht. Aus seiner Sicht geht es niemanden etwas an, was er tut und unterlässt.
Hier geht um nichts Geringeres als das Recht des Stärkeren, um sein »Recht« auf Definition und die Deutungshoheit über seine Taten. Es ist der Versuch, die Grundregeln, die im Kleinen, im Zivilleben der meisten Staaten gelten auf eine höhere Ebene zu heben.
Spinne ich diesen Gedanken weiter, so komme ich zu Fragen wie einer Weltpolizei, die den »Allgemeinen Menschenrechten« verpflichtet ist und diese wenn nötig auch mit Gewalt einfordert, gegenüber Personen und Institutionen, die deren Gültigkeit nicht anerkennen. Das UNO-Tribunal in Den Haag ist ein erster, zaghafter Ansatz in diese Richtung, tapsig und unsicher, immer wieder an Grenzen stoßend, wenn es darum geht, wirklich Mächtige zu verurteilen – und sei es auch nur stellvertretend oder gar ausschließlich symbolisch.
Diese Frage ist jedoch letztlich nicht lösbar, nicht mit den üblichen »Methoden«. Immer wird es sich so darstellen wie oben geschildert. Wer hat Recht? Na wer wohl?
Albert Schweitzer hatte in den späten fünfziger Jahren den Begriff der »Ehrfurcht vor dem Leben« geprägt, der in dieser Wendung gut auf den Punkt bringt, was alleine aus diesem Dilemma hinausführen könnte. Solange jedoch die große Mehrheit von uns weder fähig noch bereit ist, aus dem Herzen heraus Schweitzers Satz mit echtem Leben zu erfüllen, wird es weitergehen wie bisher. Der Mächtige wird die Maßstäbe setzen, die Definitionen vorgeben. Solange die meisten von uns diese Vorgehensweise offen oder insgeheim bewundern und unterstützen, wird alles so bleiben wie es ist – und womöglich sogar (wieder) schlimmer werden. Und genau hier ist der Punkt, an dem »Meinung« politisch wirksam wird.
Nichts entsteht im luftleeren Raum. Jeder kleine oder große Despot hat eine Gefolgschaft, die ihn trägt. Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient.
Nachtrag 29.3.18: Im Jahre 1835 beschlossen ein paar Banker in London, einen gigantischen Entschädigungsfonds aufzulegen. Etliche Jahre zuvor, 1807, war in weiten Teilen des britischen Empires die Sklaverei abgeschafft worden. Nun sollten Entschädigungen bezahlt werden, von staatlicher Seite. Wunderbar – Entschädigungen für die Sklaven und Sklavinnen für erlittenes Unrecht? Welch ein Akt von Menschlichkeit!
Doch … das wäre zu schön gewesen, um wahr zu sein, über hundert Jahre vor der Deklaration der Menschenrechte 1948. Denn entschädigt wurden … allein die Sklavenhalter, für ihren finanziellen Verlust durch das Ende der Sklaverei. Nicht ein Penny wurde an ehemalige Sklaven ausbezahlt, und bis heute gibt es nicht mal eine formelle Entschuldigung. Um diese Summe, die etwa 300 Milliarden Britischen Pfund (ca. 340 Mrd. Euro) in heutiger Währung entspräche aufzubringen, nahm die Regierung Kredite auf, die erst 2015 (!) endgültig abbezahlt waren. Wer mehr wissen möchte – beim Guardian gibt es einen ausführlichen Artikel darüber.