Montag, 17. Oktober 2011

99 Prozent?

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99 Prozent?

»Auf die Straßen! Wir sind 99 Prozent!« So in etwa lautet das Credo der neuen Protestwelle gegen die Gier der Finanzmärkte und Banken. Auf den ersten Blick scheint es zu stimmen: Eine winzige, gierige Minderheit terrorisiert die Vielen, »sahnt ab«, stopft sich auf deren Kosten die Taschen voll – eine brutale Umverteilung von unten nach oben.

Dass diese Umverteilung von unten nach oben in den letzten Jahrzehnten immer unverschämter und rücksichtsloser voranschreitet, deckt sich auch mit meiner Wahrnehmung der Dinge. Gigantische Vermögen entstanden und umwabern die Märkte der Erde in Form von Kapital, dass nach neuen, profitablen Anlagemöglichkeiten sucht. Dabei spielen Menschen und »Umwelt« bestenfalls eine untergeordnete Rolle, meistens so gut wie keine. Was zählt, ist der Profit, der noch mehr Profit erbringen muss.

Dies alles soll von einer Minderheit von ein Prozent der Menschen hervorgebracht werden; sie seien die »Bösen«, die Übeltäter, denen eine gigantische Mehrheit von »Betroffenen« gegenübersteht. Das klingt einleuchtend und griffig, doch ich fürchte, auch hier sind die Dinge in Wahrheit mal wieder komplexer.

Als ich am vergangenen Samstag zu der entsprechenden Demo in Berlin auf der Straße Unter den Linden dazustieß, lief sie gerade an einem der Riesenposter vorbei, die in den letzten Jahren die Innenstadt zeitweise regelrecht tapezieren: Es war das Bild eines McDonald’s-»Big Mac«, unter der Überschrift »Von uns kam der Mac. Ihr habt ihn Big gemacht.« Weiter unten bedankt sich McDonald’s Deutschland »bei seinen Gästen, Franchise-Nehmern und Lieferanten für 40 erfolgreiche Jahre«. Sinnigerweise lief gerade jemand mit einem Pappschild daran vorbei, auf dem das Brecht-Zitat »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.« prangte. Oh, wenn es nur das wäre!

Ich kann mir gut vorstellen, dass etliche der meist jungen Demo-Teilnehmer wissen, wie eine McDonald’s-Filiale von innen aussieht – und das nicht nur von seltenen, einzelnen Besuchen. Und jemand machte zudem die Filialen möglich, als Franchise-Nehmer und als Lieferant. Doch zuallererst kamen die Gäste für diesen beispiellosen Erfolg auf. Ohne Kunden, die McDonald’s weltweit als Kultmarke mit ihrem Geld »gefüttert« haben, wäre der Konzern kaum auf die heutige Größe gewachsen. Und dieses Beispiel soll nur stellvertretend stehen für viele, viele andere, die durch das Geld der Kunden groß geworden sind.

Wo unser Geld hinfließt, bestimmen wir vor allem an den Kassen der Geschäfte. Welche Marken und Läden groß werden und welche scheitern, darüber stimmen wir an den Kassen mit unserem Geld ab. Gleichzeitig stimmen wir darüber ab, welche Methoden des Marketings und des Wirtschaftens wir fördern und welche nicht. Geben wir unser Geld aggressiv auftretenden Großunternehmen, dann hat das mittelbar auch Folgen für uns selbst. So gibt es eine ganze Reihe Unternehmen, die gegenüber Lieferanten und Angestellten einen besonders harten Kurs fahren, um die eigenen Profite zu maximieren und ihre Marktmacht auszubauen. Gerade von ihnen wird mit offensiver Werbung der Eindruck erweckt, nur sie würden faire Preise anbieten. Obwohl hier der alte Lockangebot-Trick zum hunderttausendsten Male ausgereizt wird, scheint er nach wie vor zu funktionieren.

Hinzu kommt, dass sehr viele sehr Vieles ausschließlich über den Preis kaufen. Auch ich will bei meinem Einkauf einen guten Preis haben, natürlich. Doch wenn ich das mit gedankenloser Konsequenz über Jahre durchziehe, wieso wundere ich mich dann, dass zunehmend all die kleinen Läden verschwinden und nur die großen Ketten übrig bleiben?

Wohin Quasi-Monopole führen, dürfte sich eigentlich jede/r ausmalen können. Doch die meisten setzten hier ihre Prioritäten: Knauserigkeit ist so etwas wie ein heiliger Volkssport geworden – sehr treffend heißt der Werbeslogan einer großen Elektronikkette »Geiz ist geil!«. Geiz bedeutet, genug zu haben, doch um jeden Cent zu fuchsen. Von denen, die jeden Euro dreimal umdrehen müssen, rede ich hier nicht.

Das mit den 99 Prozent kann also so nicht stimmen. Natürlich ist es gut und wichtig, gegen Auswüchse zu demonstrieren. Doch wir sind Opfer und Täter zugleich, auch und gerade in unserer Gesinnung. Was wir für wichtig und erstrebenswert halten, bestimmt, was wir tun, und auch zumindest teilweise, wie wir es tun. Denn wenn über lange Jahre die Finanzjongleure und Banker die großen Stars waren und letztlich unsere geheimen Vorbilder, so sind die meisten von uns die kleinen Stars geworden, die nach oben streben wie Motten zum Licht. Wenn wir mit der gleichen Grundhaltung durch die Welt laufen wie »die da oben«, haben wir dann das Recht, im Brustton der Überzeugung auf sie zu schimpfen?

Unsere kleine, alltägliche Gier, unser eigener geiler Geiz sind okay, nur die, die statt gemeinhin mit vierstelligen Beträgen mit mehr als zehnstelligen umgehen, die sollen anders sein? Das leuchtet mir nicht ein. Solange wir im Wesentlichen die gleiche Sicht auf die Welt haben wie die »Masters of the Universe«, wird sich an den aktuellen Gegebenheiten wenig ändern. Denn selbst wenn die derzeitigen Banker das Feld räumen sollten, wird es nur auf eines hinauslaufen: »Der König ist tot, es lebe der König!« Und der König, der bin natürlich ICH.

Nachtrag 14.11.14: Eben las ich einen kleinen Kommentar zum aktuellen Gerichtsurteil gegen den Ex-Manager Thomas Middelhoff, der mir gut gefiel. Er beleuchtet nämlich das, was uns letztlich alle angeht, was aber meist ausgeblendet wird: dass nämlich Macht korrumpiert, und absolute Macht absolut korrumpiert. Wie gehen wir mit dieser sehr menschlichen Neigung um? Diese wichtige Frage wird kaum gestellt, geschweige denn gelöst. Schade eigentlich …

Nachtrag 26.3.18: Eben sah ich ein kurzes Video über »Spiegel Online«, betitelt »Das Monopoly-Experiment«. In einem Monopoly-Spiel wurden per Los einige Spieler als »reich« bestimmt: Sie bekamen doppelt so viel Spielgeld zur ihrer Verfügung wie die übrigen Mitspieler. Die Änderung ihres Verhaltens, nicht nur im Spiel selbst, sondern auch ganz unmittelbar als die Menschen, die da mit anderen zusammen an einem Spieltisch saßen, finde ich sehr aufschlussreich. Auch ihre Kommentare zu ihrem Erfolg im Spiel, die dazu zitiert werden, weisen in die gleiche Richtung. Wären andere Mitspieler als sie per Los zu »Reichen« bestimmt worden – mit ziemlicher Sicherheit hätten sie sich kaum anders verhalten. Das kleine Video fasst elegant zusammen, wozu ich mir oben im Text einen abgebrochen habe. Es ist dieser bestimmte menschliche Bewusstseinszustand, der sich nur um-, aber nicht beschreiben lässt, der uns dazu bringt, uns so zu verhalten.

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