Dienstag, 26. Juli 2011

… weiter, weiter!

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… weiter, weiter!

Erst eine Autobombe, die das Regierungsviertel in Oslo verwüstete. Dann Zielschießen auf menschliche »Tontauben« auf der norwegischen Fjordinsel Utøya, auf der gerade ein Jugendtreffen der Sozialdemokraten stattfand. Anders Breivik, ein gutaussehender, blonder, blauäugiger, hellhäutiger junger Norweger, hat seine »Mission« durchgezogen, die er jahrelang umsichtig geplant und vorbereitet hatte. Es täte ihm leid, dass dabei ein paar Menschen sterben mussten, doch das sei notwendig gewesen, soll er sinngemäß beim Verhör gesagt haben. Er pflegte ein radikal konservatives, rassistisches Weltbild.

In seinem Manifest »2083 – Eine europäische Unabhängigkeitserklärung«, über 1.500 Seiten lang, das er zu großen Teilen aus Texten im Web zusammenkopiert hatte (unter anderem etliche leicht modifizierte Teile aus dem »Unabomber Manifesto« von Ted Kaczynski), beschreibt Breivik in Form eines Tagebuchs auch minutiös seine Vorbereitungen für die schon seit Jahren geplante »Operation«. Er machte Bodybuilding und fühlte sich superfit, hatte nach seiner Aussage »einen praktisch perfekten Körper« und fühlte sich »so gut wie nie zuvor«. Kurz vor den Attentaten stellte er ein Video auf »Youtube« ein, in dem er sich unter anderem als »Ritter des Templerordens« in verschiedenen martialischen Posen präsentierte.

Ähnlich systematisch und präzise plante er den Bau der Bombe und die Beschaffung von Schusswaffen und Munition. Die Pistole und das halbautomatische Schnellfeuergewehr, das er für seine »Aktion« brauchte, konnte er sich legal beschaffen. Vorausschauend hatte er sich schon 2005 bei einem Schützenverein angemeldet, um legal mit den Waffen trainieren zu können sowie einen plausiblen Grund zum Erwerb der Pistole zu haben. Für den Kauf des Gewehrs stellte er einen Antrag auf eine Jagdwaffe, die ihm auch genehmigt wurde, da er keine Vorstrafen hatte. Um unauffällig die großen Mengen Düngemittel bestellen zu können, die er für den Bau der Autobombe benötigte, meldete er einen Bauernhof als Tarngewerbe an.  In einem Video der BBC ist von sechs Tonnen die Rede.

Auf den Seiten der BBC findet sich auch ein kleines Detail, das mich erschaudern lässt: Lange, bevor die durch den Bombenanschlag in Oslo anscheinend etwas desorganisierte Polizei auf der Insel eintraf, überflogen offenbar Hubschrauber von Medien die Insel und filmten, während unten der als Polizist verkleidete Mörder in aller Seelenruhe weiter einen Menschen nach dem anderen erschoss. Eine bessere Bühne für sein Vorhaben hätte sich der Täter nicht wünschen können.

In einem Artikel von »Spiegel Online« ist von einem unauffälligen, eher durchschnittlichen  jungen Mann die Rede. Er wohnte zuletzt bei seiner kranken Mutter und pflegte sie. Diejenigen, die über ihn aussagen wollen, schildern ihn als freundlichen, sympathischen jungen »Mann von nebenan«. Auch aus diesem Artikel geht etwas hervor, was ich vorhin auf anderem Wege nebenbei erfuhr: Sein Vater hatte ihn offenbar nie akzeptiert, verschwand aus seinem Leben, eher er sich bewusst mit ihm auseinandersetzen konnte. In einem Artikel der NZZ steht, sein Vater habe erklärt, er wolle nie wieder Kontakt mit seinem Sohn haben – wahrscheinlich war er sowieso niemals wirklich für ihn da gewesen, weder damals noch heute.

Zwei große Boulevardzeitungen, die hier zu bekommen sind, widmeten ihre heutige Titelstory dem Mörder aus Norwegen. Auf der einen Titelseite sticht das Wort »Bestie«, auf der anderen »Monster« hervor. Auf beiden ist das gleiche Foto zu sehen: Ein im Polizeifahrzeug sitzender Anders Breivik, der cool, locker und selbstgerecht lächelt. Eine Siegerpose – so schauen etwa Gewinner von Autorennen oder Tennismatches in die Kamera. Und sehr ähnlich laufen auch viele vor allem jüngere Leute herum, die mir jeden Tag auf der Straße begegnen.

Breiviks gesamtes Vorgehen zeigt eine große Zielstrebigkeit – in ähnlicher Art planen andere ihre Karriere, doch die Leichen, über die sie dann womöglich gehen, sind normalerweise eher im übertragenen Sinne zu verstehen. Breivik jedoch brauchte dazu lebende Menschen und deren physischen Tod, er ging einfach das entscheidende Stückchen weiter. Ihm reichte es nicht, sich in den anerkannten Bahnen auszutoben, seine Allmachtsphantasien mit den üblichen Angeboten zu befriedigen, seine Kindheitstraumata mit den gängigen Strategien zu verdrängen und zu überspielen. Der Pose mussten Handlungen folgen – konsequent, klar, tödlich. Breiviks Verteidiger will auf Geisteskrankheit plädieren – er sei »tief gestört und eiskalt«.

Ich glaube kaum, dass er ein »Monster« ist, wie vor allem der Boulevard in solchen Fällen schnell behauptet. Ein »Monster«, eine »Bestie in Menschengestalt« – das meint, er habe mit »uns«, mit den »normalen«, »rechtschaffenen« Menschen nichts zu tun. Natürlich nicht – das ist eine Art Alien, einer, der nichts Menschliches an sich hat. Zu anderen Zeiten wäre er ein Held gewesen, einer, der von der Mehrheit gedeckt würde, denn er wäre »einer von uns« gewesen, und »einen von uns« verrät man nicht. Ein verrückter Gedanke? Wohl eher nicht. Die tödliche Systematik, mit der unsere Väter und Großväter in den Weiten des Ostens einen Vernichtungskrieg führten, vollzog im Großen nach, was dieser Mann im Kleinen getan hat. Damals stand sogar fast ein ganzes Volk mehr oder weniger wissend hinter diesen Taten, woran sich später niemand mehr erinnern wollte. Alles Bestien, Monster? Wie sich erwies, eher das Gegenteil: Schon damals waren die weitaus meisten brave Familienväter, die nach dem Krieg in der Regel wieder in ein unauffälliges bürgerliches Leben zurückkehrten – angefeindet wurden eher die »Vaterlandsverräter«, die, die sich entzogen, die nicht mitmachen wollten.

So trauern wir, sind schockiert – und machen weiter wie bisher. Unsere Ideale bleiben die gleichen, und wäre das Ziel von Breivik nicht die Ermordung von Menschen gewesen, sondern mit der gleichen Grundhaltung und -Energie viel Geld zu machen, so wären ihm Bewunderung und die Vorbildfunktion für viele gewiss gewesen.

Solange unsere gegenwärtigen Ziele und Umgangsweisen nicht einer menschlicheren Sicht auf die Welt weichen, werden sich die Breiviks mit und ohne Mordphantasien weiter unserer Welt bemächtigen.

Nachtag 9.8.11: Gerade las ich in dem Artikel »Psychogramm eines Massenmörders« auf »Spiegel Online«, dass Breivik extrem narzisstisch, und dazu offenbar auch aggressiv sadistisch sei – er ergötzte sich am Leid anderer. Im Bericht meint der Psychiater Tørgensen, eine extreme Beschäftigung mit dem Äußeren sei ein typisches Merkmal von Narzissmus. Nun, das haben wir heute als allgemeinen Zeitgeist. Auch die inzwischen oft anzutreffende »Friss oder stirb«-Mentalität passt dazu.

Nachtrag 21.7.12: Gestern hat ein Attentäter in Denver, Colorado ein Blutbad in einem Kino angerichtet. Nach derzeitigen Stand sind 12 Menschen tot und 59 zum Teil schwer verletzt. Wie viele von ihnen überleben werden ist noch unklar.

Der Amokläufer konnte lebend verhaftet werden. Seine Wohnung wird derzeit noch von Spezialkräften der Polizei mit Robotern untersucht. Sie ist mit Sprengfallen und Brandsätzen gespickt. Alle umliegenden Gebäude sind evakuiert. Ist es Zufall, dass dies fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem Massaker geschah, das Andres Breivik angerichtet hat?

Eben fand ich einen Artikel des norwegischen Schriftstellers Karl Ove Knausgård auf »Spiegel Online«, der dort als Übersetzung aus dem Norwegischen zu lesen ist. In seinem Essay stellt er Überlegungen in eine ähnliche Richtung an wie ich hier. Auch für ihn ist es bedenklich, dass die Menschen in der realen Welt immer mehr auf Distanz zueinander gehen und sich stattdessen zunehmend in der virtuellen Welt einrichten und über sie definieren. Breivik hätte vor Gericht geradezu erschreckend normal gewirkt, schreibt er. Knausgård zitiert dazu den Attentäter mit seinen Schilderungen, wie er sich systematisch auf seine »Mission« vorbereitet hatte und appelliert dann an seine Mitmenschen, sich gegen den immer stärker werdenden Sog zur Distanz im realen Leben zur Wehr zu setzen.

Nachtrag 26.10.12: Interessant – manchmal frage ich mich, ob ich verrückt bin. Nun ja, halb im Ernst, halb im Spaß. Ich freue mich immer, wenn Gedanken, die ich hier äußere, sich aus berufenerem Munde als meinem wiederfinden. In einem Artikel über ein Theaterstück in Weimar, das die krude Weltschau des Anders Breivik thematisieren will, indem sein Monolog vor dem Osloer Gericht bei seinem Prozess im Frühjahr dieses Jahres verlesen wird, findet sich folgender Absatz: Gewiss, Breivik leidet an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Aber tut das nicht ganz Europa auf seine Weise auch? »Obwohl man schon wahnsinnig sein muss«, sagt Milo Rau, »daraus einen terroristischen Schluss zu ziehen.« Breivik, das ist die Erkenntnis dieser Erklärung, ist die Ausnahme und die Regel zugleich. (Hervorhebung von mir) Der gesamte Artikel ist nachzulesen beim »Freitag«.

Nachtrag 22.1.16: Habe noch einen Artikel gefunden, der sich mit dem Phänomen der »geplanten Amokläufe« beschäftigt. Er kommt im Wesentlichen zu den Schlüssen und Aspekten, die hier bereits erwähnt wurden, ist nichtsdestotrotz lesenswert (wie übrigens die gesamte Webseite des Autors – alle Artikel sind in Englisch).

Nachtrag 15.3.16: Anders Breivik fühlt sich als Opfer. Er klagt gegen seine Isolationshaft, er klagt gegen den norwegischen Staat wegen menschenunwürdiger Behandlung. Der Prozess findet in der dazu umgebauten Turnhalle des Hochsicherheitsgefängnisses Skien statt, in dem Breivik einsitzt. Er rechnet wohl zudem auch damit, Öffentlichkeit, Aufmerksamkeit zu bekommen. Laut einem Artikel von Espen A. Eik und Gerald Traufetter auf »Spiegel Online« hat er nicht nur in Norwegen eine Menge Fans. Der norwegische Staat ist jedoch gut vorbereitet, und so sind seine Erfolgsaussichten eher gering. Die junge Anklägerin der Opfervertreter bringt schließlich die Haltung des norwegischen Staates auf eine Formel: »Die Einschränkungen, die wir ihm auferlegen, sind klein. Die Interessen, die wir zu schützen haben, sind groß.«

Nachtrag 13.2.19: Habe eben einen Kommentar von Margarete Stokowski bei »Spiegel Online« gelesen, in dem sie sich über eine Umgangssprache wundert, die zunehmend von faschistischer Ideologie durchzogen zu sein scheint. Als Beispiel dafür nennt sie »linksgrün versifft«. In dem Artikel gibt es zwei Links zu Artikeln aus dem Spiegel-Archiv, die der Grund sind, warum ich das hier eintrage: Es sind zwei Artikel von bzw. mit Klaus Theweleit. Er ist der Autor der »Männerphantasien«, einem Buch, das 1977/78 erschien und sich mit dem beschäftigte, das man heute mit dem Stichwort »Toxische Männlichkeit« umschreibt. Da ist einmal ein Essay von ihm zu dem Film »Avatar« von David Cameron von 2010, und dann noch ein Interview mit ihm zum »Triumph der Killer« – dem lachenden Allmachtsrausch im Augenblick des Tötens und Vernichtens. Beide Texte finde ich lesenswert in Hinblick auf das, um was es mir hier geht.

Heute, fast auf den Tag genau vier Jahre nach meinem Eintrag vom 22.1.16 (siehe weiter oben), habe ich mal wieder auf der Webseite von Mark Manson herumgestöbert. Klar, ich stimme nicht mit allem überein, was er schreibt, finde aber, dass ich vieles, was er in seinen Artikeln behandelt, sehr ähnlich sehe. Ich finde es toll, dass es eine gut besuchte Webseite gibt, die auch unpopuläre, ja »uncoole« Sichtweisen publiziert. Das finde ich gerade heute sehr, sehr wichtig, in einer Zeit, in der alle wissen, wo’s lang geht. Kostprobe: Der »Kardashian-Effekt« – je präsenter jemand oder ein Ereignis medial ist, desto mehr wird in der jeweiligen Kultur dessen Wichtigkeit überschätzt.

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