Sonntag, 3. Juli 2011
Augmented »Reality«
Augmented »Reality«
Gerade las ich, dass es nun eine ganz spezielle neue, gut funktionierende Software für Smartphones gäbe – zunächst für das iPhone, doch die anderen werden mit Sicherheit folgen.
Man hält sein Gerät vor ein beliebiges Schild oder Objekt, das Schrift enthält, und gleich darauf erscheint dieses nicht mehr in der ursprünglichen Sprache, sondern wie von Zauberhand umgeschrieben in einer anderen auf dem Bildschirm. Sogar die grafische Erscheinung ist der des Originals nachgebildet. Es ist, als sei dieses Objekt in der anderen Sprache verfasst. Im Moment geht das noch ausschließlich mit Englisch und Spanisch, doch es ist bestimmt nur eine Frage der Zeit, bis auch andere Sprachen verfügbar sein werden.
In mir mischen sich Faszination und Grausen. Faszination, denn nun ist ein weiterer Schritt genommen, Informationen über Sprachgrenzen hinweg jederzeit jedem verfügbar zu machen, und zwar auch im Alltag, beim Gehen auf der Straße zum Beispiel. Es wäre denkbar, dass ich in ein paar Jahren sagen wir nach Tokio fahren kann, mit einer Spezialbrille auf und meinem Smartphone in der Tasche, und alles auf der Straße, das Text enthält und das ich anschaue, egal ob Verkehrsschild, Zeitung oder Werbung, erscheint in meiner Muttersprache, ganz so, als ob sie tatsächlich in dieser Sprache verfasst wären. Alles wäre plötzlich viel verständlicher, ja vertrauter.
Grausen, weil aus meiner Sicht wir uns als Kollektiv immer mehr ent-sinnlichen, immer mehr von unmittelbaren zu technisch vermittelten Erfahrungen hinbewegen. Dies ist ein weiterer Schritt in Richtung auf eine universelle »Augmented Reality« – eine »verbesserte«, technisch unterstützte und »erweiterte« Realität. Schon jetzt stehen vor allem jüngere Leute zwar mit vielen anderen in enger Verbindung – diese sind jedoch selten diejenigen, mit denen sie gerade hier und jetzt zu tun haben. Die aktuelle »Umgebung« scheint für viele zunehmend nervig zu sein, deshalb also Sonnenbrille auf und Ohrstöpsel ‘rein. Wichtig sind die Freunde, mit denen man zum Beispiel simst, twittert und chattet – echte wie auch rein virtuelle.
Für mich ist diese App ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zu einem Miteinander, das zunehmend indirekt abläuft. Kommunikation findet in erster Linie über Kommunikationsmedien statt, persönlicher Kontakt wird immer mehr auf wenige Freunde beschränkt und ist ansonsten zunehmend verpönt.
Diese Entwicklung geht mit einiger Wahrscheinlichkeit so weiter, denn sie unterstützt bem Einzelnen ein Gefühl von Souveränität und Kontrolle, das es so wohl noch nie vorher in der Menschheitsgeschichte gab. Und Herrscher sind im Laufe der Geschichte noch immer freiwillig und aus eigener Einsicht von ihren äußeren wie inneren Thronen gestiegen …
Für mich geht es hier weniger darum, neue Technologien pauschal zu verteufeln, sondern Fragen zu stellen: Nützt uns das, was wir an Möglichkeiten geschaffen haben? Wenn ja, in welchen Bereichen? Welche anderen Bereiche treten dafür in den Hintergrund? Welche Bedeutung haben die jeweiligen Bereiche für uns als Einzelne und als Kollektiv? Welche davon sind elementar wichtig, welche nur Auswüchse unseres Geistes? Welche Balance zwischen diesen Bereichen ist sinnvoll – weniger aus unserer subjektiven Sicht als aus der Sicht des Lebens, dessen Teil wir ja (noch) sind?
Wo entwickeln wir uns als Spezies hin, und welchen Nutzen haben wir davon? Bleiben wir weiterhin dabei, in erster Linie uns (und unsere »Umwelt«) unseren fixen Ideen anzupassen statt unsere Ideen dem, was für uns in dieser Form wichtig ist? Ist diese Herangehensweise wirklich die brillante Idee, als die sie den meisten von uns erscheint? Sind Mensch-Maschinen (oder Maschinenmenschen) eine erstrebenswerte Zukunft? Was ist für uns »Realität«?
Mir ist klar, dass die Antworten auf diese Fragen stark davon abhängen werden, welcher Altersstufe der/die Antwortende angehört. Nicht, dass alle jüngeren und alle älteren sich somit klar auseinanderdividieren ließen. Die Unterschiede dürften weniger aus intellektueller Sicht zu beschreiben sein als sich in der Art und Weise finden, wie jede/r sich und die Welt unmittelbar wahrnimmt – und das ist mit Worten kaum zu fassen.
So wird Augmented Reality vor allem für die jüngeren zunehmend eine Selbstverständlichkeit. Für viele von uns älteren dürfte diese Begeisterung fürs Indirekte und »Vermittelte« jedoch zuweilen Befremden auslösen. Zumindest mir geht es so.
Den einzigen Vorwurf, wenn überhaupt, den ich mir vorstellen kann zu äußern ist, sich den oben angerissenen Fragen – die Liste ist alles andere als vollständig – nicht stellen zu wollen. Doch das hat auch bislang kaum ein Mensch getan – warum also, um alles in der Welt …
Nachtrag 25.11.12: Natürlich geht die Entwicklung weiter. Und bei der weiter wachsenden Affinität für Sonnenbrillen, speziell unter jüngeren Leuten, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis das nächste große Gadget seinen Siegeszug feiern wird. Es wird die getönte Brille mit eingeblendeten/darüber gelegten Inhalten sein, wahrscheinlich kombiniert mit Foto- und Videoaufnahmemöglichkeit. Mehrere Firmen arbeiten derzeit daran, so etwas für erschwingliches Geld auf den Markt zu bringen – siehe diesen sehr informativen Artikel bei »Spiegel Online«.
Nachtrag 21.3.18: Über einen Link fand ich diesen Artikel der New York Times von 2013. Darin geht es um die immer stärker werdende Haltung, für alle echten oder scheinbaren Probleme eine technische Lösung zu sehen – eine App, einen Algorithmus oder eine Maschine, die es dann richten wird. Es ist der naive, bedingungslose Glaube daran, dass die Antwort auf alle menschlichen Belange nur eine Frage der korrekten und stringenten technischen Lösung sei. Im Artikel wird das »Solutionism« genannt. Ich würde es als »Machbarkeitswahn« umschreiben.
Dass die meisten Dinge weitaus komplexer sind, als es für eine »einfache« Lösung erscheinen mag und Menschsein auch Unperfektes einschließt, ja uns erst zum Menschen macht wird dabei völlig ausgeblendet. Der spanische Philosoph Ortega y Gasset schrieb schon 1939: »Ich wünschte, die Ingenieure würden endlich erkennen, dass, um wirklich ein Ingenieur zu sein, es nicht reicht, nur ein Ingenieur zu sein.«
Der oben verlinkte Text ist auf Englisch. Hier noch ein Text auf Deutsch zum Thema, bei der Zeitschrift BrandEins. Auch hier geht es um den blinden Glauben an die Macht der Technik, speziell an die der »künstlichen Intelligenz« (KI): »Was man nicht entscheiden will, wird an die Technik delegiert. Das ist einer der Gründe, warum so viele auf künstliche Intelligenz abfahren – sie erspart eigene Denkarbeit und die Verantwortung, die damit verbunden ist. … Seit der Aufklärung wurde das mechanistische Konzept vom ›Mensch als Maschine‹ propagiert, wie es der Philosoph Julien Offray de La Mettrie 1748 formulierte. Im Industrialismus wurde das zum Dogma. Wenn man den Menschen für eine Maschine hält, dann kann man diese Maschine nachbauen, und wer den Bauplan hat, kann alles steuern, kontrollieren und manipulieren. Das ist der ultimative Größenwahn.«
Wie schön, zumindest hin und wieder ähnliche Gedanken aus berufenem Munde zu hören. Da fühle ich mich gleich weniger »verrückt«, weniger als ein Flüsterer in der Wüste. Eben (21.11.21, unmittelbar vor dem strahlenden Sonnenaufgang der »Neuen Realität«) las ich einen Artikel über Facebooks Pläne für die nahe Zukunft. Sie laufen unter dem Namen »Metaverse« und sollen endgültig das Virtuelle »realer« machen als das, was bislang in der Menschheitsgeschichte als real galt.
Seit knapp zwei Jahren steht ja per weltweitem Dekret jeder menschliche Körper im Generalverdacht eine Biowaffe zu sein, und die überwältigende Mehrheit verteidigt dieses Paradigma inzwischen fanatisch gegen die »Unvernünftigen« (im Neusprech auch »Corona-Leugner« und »Ungeimpfte«). Der radikale Trend der letzten Jahre hin zum Unpersönlichen, Abgetrennten, Virtuellen ist jetzt kaum noch aufzuhalten. Die Leute wollen es und werden das neue »Metaversum«, eine Art »Virtual Reality 2.0«, begeistert annehmen. Sie sollen laut Mark Zuckerberg ganz in dieses Metaversum eintauchen können, ja »mit ihm verschmelzen«. Sie werden sich dadurch wohl kaum als Menschen gemindert und gegängelt, sondern wie praktisch immer in den letzten zwanzig Jahren ermächtigt fühlen.