Samstag, 8. Dezember 2018

Die neue Weltreligion – The Sound of Nonsense

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Die neue Weltreligion – The Sound of Nonsense

Ich bin jetzt seit einem Vierteljahr aus Brasilien zurück. Eigentlich hatte ich erwartet, dass das, was ich dort auf der Straße sehe – will heißen, was ich so vom Alltag dort mitbekomme –, sich doch noch ein wenig vom alltäglichen Anblick hier in Berlin unterscheidet. Na, zumindest bei einem Teil der Menschen, die mir begegnen. Klar, natürlich sieht Vieles dort anders aus als hier, wird anders gehandhabt. Das setzte ich voraus. Davon spreche ich hier nicht. Doch meine Erwartungen waren schlichtweg naiv.

Hier wie dort sich im Gefühl in ihrer eigenen Großartigkeit verlierende Menschen. So gut wie überall. In den Händen die Fernbedienung für ihren eigenen Lebensfilm, in den Ohren Töne, die sie als Soundtrack für ihr Leben ausgewählt haben, so wie Milliarden anderer Menschen in aller Welt auch. Sie sind die perfekten Regisseure ihrer eigenen Lebensshow und gleichzeitig die Zuschauer und Konsumenten davon. Und immer öfter bleibt dabei der Finger auf der »schnelles Vorspulen«-Taste liegen. So viel, so schnell! Geil! Mehr davon!

Denn alles muss schnell gehen, alles muss perfekt aussehen, alles muss perfekt unter Kontrolle sein: Alles ist machbar, jede Frage lösbar. Das Leben als Kreuzworträtsel, bei dem man nur das Richtige googeln, eine App, in die man nur das Richtige eintippen muss. Vorausgesetzt, man hat die neueste Version. Und natürlich, ganz wichtig: Immer gut drauf sein. Reales Leben? Viel zu langweilig, zu unperfekt, zu wenig unter Kontrolle. Zu viel Irritierendes, Verstörendes, Verunsicherndes. Völlig ungeeignet, um cool dazustehen, also jemand darzustellen, sich als überlegen zu profilieren. Geht gar nicht.

So nähern wir uns in Riesenschritten der »All Star-Gesellschaft«. Und damit wird es auch immer schwieriger, einzigartig zu sein, die anderen hinter sich zu lassen, ein Star der Stars zu sein. Denn alle anderen wollen das ja auch. Daher darf es durchaus immer einen Tacken heftiger sein. Hauptsache cool! Seit diesem Sommer sind Gesichtstattoos kurz davor, Mainstream zu sein. Und was wird der nächste Hype?

Ich sehe auch keinen nennenswerten Unterschied zwischen Menschen, die ich als »dem rechten Spektrum zugehörig« einstufen würde und praktisch alles anderen. Allen gemeinsam ist dieser narzisstische Rausch, ermächtigt zu sein. Es könnte aber sein, dass Menschen, die stärker zu einer hierarchischen und totalitären Weltsicht tendieren als andere einfach nur weniger Skrupel haben, »die Sau ‘rauszulassen« als die übrigen. Denn das ist das Hauptmerkmal des Weltbildes der weitaus meisten konservativen Menschen: »Die Macht ist unser. Punkt.« Nun ja, was heißt hier Skrupel – wenn es die Situation erfordert, ist es damit auch vorbei. Gleiches Recht für Alle!

Fühlen? Wirklich fühlen, und nicht nur schnelle, reflexhafte, »moderierte«, konsumierbare Emotion? Nur, wenn’s ins Programm passt und unter Kontrolle ist. Sich verkaufen lässt. Was da nicht passt, muss weg. Hat keinen Platz, kein Existenzrecht. Ist gefährlich. Die Maske muss sitzen. Die Maske? Welche Maske? Das bist doch du selbst, oder? »Sei, wer du sein willst!«, schreit es aus allen Ecken. Und wer du bist, das weißt du am allerbesten, das bestimmst alleine du.

Vor langer Zeit mal waren solche Sätze nicht mehr als platte Werbeslogans, freche, plakative Floskeln. Ein Blick in die Zukunft. Doch das ist lange her. Heute spiegeln sie den Ist-Zustand. Sind einpeitschende Propaganda: Da geht noch mehr! Die Zeiten der Unschuld, gar Demut sind lange vorbei – wenn es sie denn jemals gegeben hat. Solche Sätze gehören zu dem, über das Tucholsky mal meinte, man sollte sie in Stempel schneiden und dann verbrennen.

Wir alle sind von diesem ungeheuer berauschenden Gefühl beseelt, ja getragen, dies alles selbst geschaffen zu haben. Es ist unser Verdienst, die Frucht unseres Könnens, unserer Gewitzheit, unserer Überlegenheit. Kurzum, unser Erfolg! Mag sein – doch wir siegen uns (und den Rest des Planeten) zu Tode. »Invincible Defeat« nannte es Leonard Cohen in einem seiner späten Songs. In Wirklichkeit ist es ein ungeheurer innerer Ballast, den wir da mit uns schleppen – gigantischer, als es je ein voller Keller oder Dachboden sein könnten.

Und wehe, wenn da mal Zweifel kommen. Dann fällst du wie ein Stein – so wie in dem Trickfilm »Who framed Roger Rabbit«: Da gibt es eine der Szene, wo die Hauptfigur ganz oben im einem Cartoon-Hochhaus in einem Klo vor einem Spiegel steht, sich hingebungsvoll kämmt und auf einmal merkt, dass unter ihr kein Boden ist. Erst in diesem Augenblick beginnt sie zu fallen. Also: So lange du glaubst, bist du sicher. Das müssen wir uns selbst und allen um uns herum immer wieder beweisen. Solange es Konsens ist, dass da ein Boden existiert, können wir uns darauf verlassen. Es ist wie mit Geld: Das hat nur deshalb einen Wert, weil wir alle uns einig sind, dass es einen hat. Selbst wenn wir dabei an Bargeld denken, das ja noch physisch existiert: Der wirkliche materielle Wert dieser Symbole ist vernachlässigbar.

Dort hinein fließt bereits jetzt der Löwenanteil unsere Energie und sonstigen Ressourcen. Es ist abzusehen, dass wir bald fast alles nur noch dafür tun werden. Dieses Prinzip ist alles andere als neu, doch heute ist es extrem geworden: Alles, was uns als Menschen unmittelbar ausmacht, ist inzwischen suspekt, ist bedrohlich geworden. Ist Sand im Getriebe. Es steht unserer Gier nach Kontrolle und einem immer größer Werden im Weg, ja ist pures Gift dafür. Ist die Nadel, die sich dem Ballon nähert. Daher spiegelt das, was in der Welt geschieht, nur das wider, was sich in uns selbst abspielt. Und das, was wir da erschaffen haben, wirkt wieder auf uns, unsere Psychen zurück. So gut wie alles auf der Welt ist heute darauf angelegt, diesen sich selbst verstärkenden Kreislauf zu füttern. Daher gilt heute noch viel mehr als früher: Schein ist wichtiger als Sein. Welchen Klang wird diese rasende, sich weiter beschleunigende Rückkopplungsschleife auf ihrem Höhepunkt erzeugen?

21.7.19 – eben gelesen: Sibylle Berg hat in ihrer Wochenend-Kolumne bei »Spiegel Online« das Thema aufgegriffen – jemand, der (oder besser die) solche Dinge von einer ganz anderen Warte der Aufmerksamkeit behandeln kann. Ich habe zwar keine Ahnung, wie oft ihre Artikel bei »Spiegel Online« gelesen werden. Was ich aber weiß: Der Traffic dieser Seite hier liegt bei nahe null. So ist es wie immer eine Wohltat zu sehen, dass ähnliche Gedanken wie meine auch aus berufenerem Munde zu lesen sind.

Wie immer freue ich mich, wenn ich etwas lese, das meinen Gedanken und Beobachtungen ähnelt. Gestern, am 6.8.19, fand ich bei »Spiegel Online« ein Interview mit Boris Zizek von der Leibniz Universität Hannover. Es war einer der inzwischen selten gewordenen Momente, wo ich eine Äußerung, ein Nachdenken  darüber höre, was diese allgemeine Entwicklung mit uns macht, was wir mit uns und der Welt machen.

13.8.19 – Stefan Kuzmany hat bei »Spiegel Online« eine Glosse über das souveräne über den Dingen Stehen geschrieben, das All-Wissen – etwas, das aus meiner Sicht heute Allgemeingut ist. Doch es ist immer mal wieder interessant, Prominente zu sehen und zu hören, die sich ein Bisschen weiter aus dem Fenster lehnen als die Mehrheit der Bevölkerung. Die Vorbilder und Schrittmacher dieser Entwicklung sind. Es geht in diesem Fall um Daniel Cohn-Bendit, gestandener Alt-68er. Er muss es doch wissen, oder?

23.8.19 – Wer die Zeit dazu hat … Die weitaus meisten haben sie nicht. Sie sind mit den Sozialen Medien beschäftigt. Und Nachdenken über das Suchtpotential und die mentalen Folgen »der Maschine«? Das interessiert die Wenigsten. Wer doch mal einen kritischen Artikel darüber lesen möchte (auf Englisch), wird hier beim Guardian fündig.

Auf die Kacke hauen … Das Eine sind Bestrebungen der DUH (Deutsche Umwelthilfe), per Gerichtsverfahren bestimmte Umweltstandards durchzusetzen. Eigentlich eine gute Idee, aber – es gießt Öl ins Feuer, treibt die Spaltung und Zersplitterung der Gesellschaft weiter voran. Ein Beispiel, wie gute Ideen, wenn fanatisch bis zum bitteren Ende durchgefochten, letztlich langfristig mehr Schaden als Nutzen bringen. Und noch was, wo wir gerade (21.1.20) bei Gerichten sind: Sollte dieses Urteil bundesweit Rechtskraft erlangen, können sich alle freuen, die Verkehrsregeln eh nur als lästige Gängelung betrachten. Denn die Polizei und die Ordnungsämter sind vielerorts personell gar nicht in der Lage, den (stehenden) Verkehr auch nur ansatzweise zu überwachen. Das Personal wurde ja in den vergangenen Jahrzehnten systematisch weggespart. Und mir ist auch schon klar: So wie die Personalsituation bei der Polizei gerade aussieht, ist zumindest hier in Berlin die Verschärfung der Strafen für Parken auf Fahrradwegen seit dem 1.1.20 schlichtweg Makulatur. Hätte man sich sparen können. Der Staat verhöhnt sich dabei gewissermaßen selbst, mit Gesetzen, die er nicht mal ansatzweise durchsetzen kann.

Noch ein Artikel, der hier thematisch passt (31.1.20). Thomas Fischer schreibt heute in seiner Kolumne bei »Spiegel Online«: »Der Gaffer ist immer der Andere«. Fischer ist nicht irgendwer, sondern war Vorsitzender Richter am 2. Strafsenat des BGH und ist Autor des Standard-Kommentars zum StGB. Aus meiner Sicht ein hochkarätiger Jurist, der sich einen gesunden Sinn fürs Pragmatische erhalten hat.

Da macht sich jemand ernsthaft Gedanken darüber, was die neue, sensationelle digitale Welt mit uns macht! Prost! Das hat Seltenheitswert, denn meistens ist die Sicht auf die Dinge selbstreferenziell – äußere Maßstäbe werden ja heute weitgehend abgelehnt. Und selbstreferenziell gesehen wird so aus dem Elefanten, der im Raum steht, eine Maus – ein Problemchen, das man beachten kann, aber nicht muss. Alles easy, alles locker. Ich freue mich wie immer, wenn ich aus berufenem Mund lese, dass da möglicherweise doch ein Elefant … Wie zum Beispiel in diesem Essay von Nils Minkmar bei »Spiegel Online« (15.2.20).

»Telephonphobie« – etwas tun, was ungewohnt ist und bei dem man nicht die volle Kontrolle hat? Sich nicht so bedeckt, souverän im Rahmen seines »Image« verhalten kann wie »nötig«? Gar womöglich unsicher wird und aus der Rolle fällt, die man sich so mühsam aufgebaut hat? Laut einem Zitat der Studie »Jugend, Information, Medien« aus dem Jahr 2018 in diesem Artikel bei »Spiegel Online« vom 22.2.20 tauschen sich 95 Prozent der Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren ausschließlich per Textnachrichten über »WhatsApp« und andere Messenger aus. »Das ist der Weg des geringsten Widerstands. Nur jeder fünfte nutzt das Smartphone noch täglich zum Telefonieren.« Wieder so ein Mäuschen: Wir verlieren schleichend eine wichtige menschliche Kompetenz – sie gilt zunehmend mehr oder weniger als »uncool«. Ich blicke mal in die Zukunft: In zehn Jahren kommunizieren fast alle unter vierzig so gut wie nur noch über Textnachrichten. Direkten Kontakt gibt es nur noch gut vorbereitet mit einer Handvoll »Peers«, ansonsten wird er vermieden. Und dann fällt auf einmal das Internet aus, und man muss plötzlich einfach so mit Leuten direkten Kontakt haben, die man vorher sprichwörtlich ausblenden konnte. Was passiert dann?

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