Donnerstag, 7. September 2017

Wie bitte?

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Wie bitte?

Normalerweise schaue ich mir nur selten etwas auf YouTube an. Ich weiß – es gibt dort neben Unmengen von völlig Belanglosem auch Perlen zu finden.

Ein Freund schickte mir heute einen Link zu einem Kabarettvideo, und so nebenbei kam ich danach auf eine Doku von ARD Alpha über Narzissmus, in drei Teilen. Da ich mich mit dem Thema beschäftige, schaute ich mir alle drei Teile an.

Es wurden etliche verschiedene Aspekte des Themas angesprochen, was ich gut gemacht finde. Was mich jedoch regelrecht schockierte, obwohl es für mich keineswegs neu ist: Bestimmt zehn Mal wurde über die frei Folgen verteilt erwähnt, dass auf diesem Gebiet Vieles noch wenig erforscht sei, man mehr oder weniger am Anfang stünde.

Hatte ich mich verhört? Es gab immerhin Ton. Es gab Farbe. Ich sah das Ganze auf YouTube. Doch es war kein Film von 1915, es war einer von 2015. Warum ich das so entsetzt beschreibe? Weil ich entsetzt bin, dass wir im Zeitalter des Internets und der Taschencomputer, der 4K-Fernseher zum Schnäppchenpreis und des GPS für Jedermann noch kaum etwas darüber wissen, wie wir als Menschen »ticken« und was für uns wirklich wichtig ist.

Es scheint offenbar kaum jemanden zu interessieren. Die Fragen, die für unser Zusammenleben eminent wichtig sind, interessieren nur eine Handvoll Forscher, und selbst die wissen bislang nur wenig. Ja, auf mich wirkten die befragten Wissenschaftler/innen zum Teil regelrecht hilflos, nur mühsam kaschiert. Was sagt das über uns und unsere Absichten aus?

Ich weiß – Psychologie, Soziologie und Philosophie sind Bereiche, die letztlich nur diejenigen wirklich interessieren, die darin ein Potential zur Machtausübung und zum Geldmachen sehen. Sollte es weiterführende Erkenntnisse geben, so liegen sie mit hoher Wahrscheinlichkeit in den Schränken der entsprechenden Firmen und staatlichen Institutionen – in den Händen von Menschen, die sich nicht um »Wissenschaftlichkeit« und Reproduzierbarkeit scheren müssen, sondern schauen können, wie sich das Alles ganz praktisch in Macht und Geld übersetzen lässt.

Ich bezweifle, dass dieses Wissen, so weit es vorhanden ist, sich damit in den Händen derer befindet, die es zum Wohle der Allgemeinheit, ja der Menschheit als Ganzes nutzen werden. Betrachtet daher dieses kleine Textchen als eine erstaunt und erschreckt gestellte Frage.

Nachtrag 8.9.17: Schwupps – das war schnell. Eben las ich beim Guardian, dass die Stanford Universität ein Forschungsprojekt gestartet hat, in dem ein auf »Künstlicher Intelligenz« (also einem lernfähigen Computer) beruhender Algorithmus mit hoher Wahrscheinlichkeit feststellen kann, ob eine Person schwul bzw. lesbisch ist. Das Ganze braucht nur ein Foto – wenn es mehrere Bilder der Person gibt, steigt die Trefferquote noch mal deutlich. Bevor wir über uns selbst wirklich Bescheid wissen, kann eine Computeralgorithmus schon rein quantitative Aussagen über Menschen treffen: »Überprüfte Person ist mit einer Wahrscheinlichkeit von 91 Prozent homosexuell.« Und diese Methode lässt sich für weitere Analysen verwenden, etwa: Hat jemand psychische Probleme? Welches sind die wesentlichen Persönlichkeitszüge dieser Person? Was das für die Zukunft bedeutet, kann ich mir noch nicht ausmalen. Mich graust.

Wir zerstören uns, bevor wir wissen wer wir sind. Alles um der Illusion der Macht willen, des Drüberstehens willen. Ja, wir sind Kinder des Universums. Aber wir sind nicht dessen Herrscher, auch wenn wir uns so sehen.

Nachtrag 16.12.17: Heute stand ein Kommentar von Deborah Orr auf der Meinungsseite des Guardian, Unterrubrik »Mental Health«. Sie schreibt dort über eine Untersuchung der überparteilichen Jo Cox Commission über Einsamkeit in England, die fand, dass sich diese inzwischen zu einem »großen und noch immer wachsenden Problem« entwickelt habe. Deborah Orr merkt in ihrem Artikel an, dass etwas Wichtiges zunehmend verloren gehen würde: Mensch sein an sich hat keinen immanenten Wert mehr, »es qualifiziert dich heutzutage zu nichts«. Erst wenn du eine ganze Liste von Bedingungen erfüllst (deren Anzahl und Anforderungen stetig wachsen), bekommst du einen Wert. Ansonsten bist du nichts und niemand. »So zu sein wie alle Anderen, nicht mehr und nicht weniger, einfach ein Mensch, das wäre alles was wir brauchen. Doch dies ist heute im Zeitalter des totalen Individualismus und des Narzissmus für viele eine grauenhafte Vorstellung, mit der man nichts zu tun haben möchte. Diese Haltung macht die Menschen jedoch immer ungleicher und damit auch einsamer – selbst die ganz oben.«

Nachtrag 29.3.18: Eben las ich einen Kommentar von Sascha Lobo auf »Spiegel Online« zu Werbung im Internet, deren Möglichkeiten und Grenzen. Das hat zwar eher indirekt mit dem Thema oben zu tun, doch ich finde trotzdem, dass es interessant ist. Gerade bei der Werbung verschwimmt die Grenze zwischen Kalkulierbarkeit und Hokuspokus stark und nachhaltig. Als ich den Artikel las, staunte ich nicht schlecht. Und musste ein paar Mal lachen bei der Vorstellung, wie absurd und gleichzeitig sehr real vieles in diesem Bereich ist. Und nicht nur dort.

Nachtrag 5.3.19: Auch das hat nur indirekt mit dem Thema zu tun – oder doch nicht? Der US-amerikanische Sexualtherapeut Dr. Marty Klein schreibt in einem seiner jüngsten Artikel, dass die Menschen, auch junge, heute weniger Sex haben als vor 25 Jahren. Neben gestiegenen beruflichen Erwartungen und allgemeiner Hektik sieht er einen weiteren sehr wichtigen Grund dafür: Realer Sex kann selten mit dem Glamour und der sichern, distanzierten Unterhaltung und Ablenkung mithalten, die das Internet bietet – allzeit mobil verfügbar über unsere Handys. Sex sei der letzte private Bereich, der sich nicht mit einem Griff zum Handy »abhandeln« lasse, meint er. Und er rät uns dringend davon ab, uns mit den Darstellern in Pornos zu vergleichen!

Gerade (3.11.19) las ich etwas, das mich nachdenklich und traurig zurücklässt: Es gibt eine neue Spielmethode, um Kindern in Kitas ein Gefühl für den körperlichen Umgang mit sich und anderen zu geben. Das lernen sie anscheinend heutzutage nicht mehr so ohne Weiteres mit Angehörigen und Freunden. Dabei balgen die Kinder selbstbestimmt mit speziell geschulten erwachsenen TrainerInnen. Nun gab es Proteste wegen möglicher Übergriffe: Es könnten sich ja Pädophile einschmuggeln und Missbrauch könnte stattfinden. Ja, im Prinzip besteht diese Gefahr, doch gerade in diesem speziellen Setting ist das sehr unwahrscheinlich. Ich spare mir Details – das lässt sich alles in dem Artikel bei »Spiegel Online« nachlesen. Für mich ist dies Verbot und der Hype um mögliche Gefahren eine grundsätzliche Haltung, die ich seit inzwischen vielen Jahren bei den »Helmkindern« umgesetzt finde – also Kindern, die am besten nur noch mit einem Helm auf ‘rumlaufen. Nur wird das hier erweitert auf die gesamte Körperlichkeit. Ach, ich habe übrigens gestern Abend zwei Kinder ohne Helme (!!!) herumtoben sehen. Da mache ich mir doch gleich einen Strich im Kalender.

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