Donnerstag, 30. Oktober 2014

Zu früh geschämt – ein Pamphlet

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Zu früh geschämt – ein Pamphlet

Plötzlich war da dieser Satz. Es ist bestimmt zwei Jahre her, da sprach mich auf einem S-Bahnhof ein junger Mann an und bat mich um ein bisschen Kleingeld. Eben war eine S-Bahn eingefahren, in die meine Begleiterin einsteigen wollte, und ich war dabei, sie zu verabschieden. Ich bat ihn um einen Moment Geduld.

Als das singende Klang der abfahrenden Bahn schnell leiser wurde, schaute ich mich nach ihm um. Eigentlich hatte ich nicht mehr damit gerechnet, ihn noch zu sehen. Doch er stand etwas verloren ein paar Meter weiter auf dem nun fast leeren Bahnsteig, und ich ging auf ihn zu.

Er hatte etwas Offenes, Waches und Verletzliches, das ich schon öfters bei Menschen gesehen hatte, die Betteln gehen. Eine Münze wechselte die Hände, und wir kamen miteinander ins Gespräch. Und auf einmal war da dieser Satz.

Ich vermag nicht nachzuvollziehen, wie er in meinen Kopf kam. Etwas in mir sträubte sich dagegen, ihn auszusprechen, doch gleichzeitig zwang mich irgendetwas geradewegs dazu. Lange Sekunden war ich hin und her gerissen, doch dann platzte es beinahe aus mir heraus: »Es gab eine Zeit, da hatten wir den ›Totalen Krieg‹. Heute haben wir die Totale Konkurrenz …« Kaum war es heraus, da schämte ich mich auch schon dafür, das ausgesprochen zu haben. Durfte man so etwas sagen? War das angemessen? Irrwitzig? Abwegig?

Das ist jetzt gute zwei Jahre her. Zuerst schämte ich mich weiter. Mir war das oberpeinlich, jedes Mal, wenn meine Erinnerung diesen Moment streifte. Doch es war in der Welt; jemand hatte diesen meinen Gedanken gehört. Nichts und niemand konnte das mehr zurücknehmen.

Doch inzwischen ist viel passiert: Dieser Satz drängt sich mir inzwischen immer wieder auf, wenn ich sehe, was um mich her geschieht. Um mich her – damit meine ich weniger die allgemeinen Nachrichten als das, was ich im Alltag mitbekomme: Satzfetzen aus Gesprächen neben mir, den Umgang miteinander auf der Straße, im Einkaufszentrum, im Straßenverkehr. Die pampig-entschlossenen, selbstgerechten Mienen (fast) überall, die allgegenwärtigen Reklametafeln mit offenen und indirekten Lobpreisungen des Wettbewerbes und des Sieges, Sprüche auf Aufklebern, und, und.

Wie kommt es bloß, dass sich mir dieser Satz jetzt immer wieder aufdrängt? Es klingt vielleicht blöd, doch er kann eigentlich gar nicht anders. Denn eine Welt, die inzwischen bis in die feinsten Verästelungen des menschlichen Lebens nach dem Marktprinzip funktioniert und auch so funktionieren soll, ist eine Welt des totalen Marktes. Und im totalen Markt herrscht totale Konkurrenz.

Das alleine reicht aber noch nicht, um das hartnäckige Nagen dieses eigenartigen Satzes zu erklären. Da fehlt noch was. »Der Himmel ist blau« kommt ja auch nicht dauernd wieder, obwohl er’s ja ist, wenn ihn die Wolken nicht verbergen. Ich glaube, es ist diese weitere mich verstörende Parallele zum historischen »Vorbild«, die ihn mir immer wieder aufdrängt.

In den alten historischen Dokumentarfilmen, in denen dieser verhängnisvolle Satz zu hören ist, damals im Sportpalast in Berlin, vor vielen Parteimitgliedern, da brandete daraufhin frenetischer Jubel auf, und ein vieltausendstimmiges, begeistertes »Jaaa!« kam zu dem demagogischen Redner zurück. Dieses »Jaaa!« sehe und höre ich heute überall.

Nein, natürlich nicht als explizite, gesprochene Antwort auf diese unausgesprochene Frage: »Wollt ihr die totale Konkurrenz? Wollt ihr sie in allen, wirklich allen Bereichen eures Lebens, wollt ihr sie umfassender, totaler als ihr sie euch heute überhaupt vorstellen könnt?«. Wieder brandet ohrenbetäubender, frenetischer Jubel auf, und mit leuchtenden Augen antworten Millionen und Millionen und Abermillionen von Menschen weltweit mit ihrem Einkaufs- und Kleidungsverhalten, ihrem Lebensstil, ihrem Denken und Fühlen, ihrem ganzen Wesen: »Jaaaa! Es kann nur Sieger geben. Und die Sieger sind wir!« Klar, natürlich. Und damit es Sieger gibt, muss es selbstverständlich Verlierer geben. Na Alta, hast halt Pech gehabt, nä? Fuck you. Selber schuld. Hättest dich ja mehr anstrengen können … Sic.

Solidarität und Miteinander waren gestern. Sieger sind heute. Und so wie es aussieht, auch morgen. Doch wo soll das hinführen?

Schöne neue Welt. Zu früh geschämt.

 

Nachtrag 17.12.14: Wem das hier zu abgedreht erscheinen mag – habe heute einen Link zu einem Artikel der »Süddeutschen« bekommen, der schon Anfang September 2014 erschien. Wie schon so oft mal wieder etwas zum Thema aus berufenerem Munde als meinem.

Nachtrag 18.2.15: Es gibt Leute mit einem Namen, deren Aussagen mir zeigen, dass ich nicht spinne. Noch nicht. Das ist wichtig, denn alles ist inzwischen so selbstverständlich geworden. Ich habe inzwischen den Eindruck, es wird schon für verrückt gehalten, Fragen zu stellen. Warum denn, alles ist doch gut wie es ist. Da tröstet es mich, wenn ich mal wieder etwas aus berufenem Munde lese, das das Kind (noch) beim Namen nennt. »Wer einfach mal abhängt, macht sich verdächtig«, ist ein Interview mit der Soziologin Paula-Irene Villa auf »Spiegel Online« betitelt …

Nachtrag 26.2.15: Eben las ich eine Nachricht, die mich mit offenem Mund vor dem Rechner sitzen ließ: Ein neues Produkt der Firma »Pebble« auf »Kickstarter« hat einen Rekord gebrochen – schon nach einer Stunde waren eine Million Dollar gesammelt, nach einem Tag acht, Tendenz weiter stark steigend. Nein, es ging da nicht um ein Produkt, das der Gemeinschaft neue Erkenntnisse liefert oder hilft, Armen das Leben einfacher oder sicherer zu machen. Es ging um etwas, das man unbedingt braucht, so nötig wie die Luft zum Atmen: um eine Smartwatch. Vielleicht spielte ja auch die Psychologie des »Underdog gegen Weltkonzern« dabei eine Rolle, denn der CEO von Pebble, Eric Migicovsky, tönte beim Wall Street Journal«: »Wir nehmen es mit Apple auf …!«. Für mich wirft das ein Schlaglicht auf das, was vielen Leuten offenbar besonders wichtig ist. Mir geht das, gelinde gesagt, am Arsch vorbei …

Nachtrag 23.7.17: Beim Guardian las ich gestern eine Geschichte, die mich noch immer beschäftigt. Ja, ich finde es abscheulich, und gleichzeitig ist dies wie ein unerwarteter Fotoblitz, der überraschend etwas grell hervorhebt, das sonst im Dunkeln geblieben wäre: Eine Gruppe Jugendlicher in Florida, zwischen 14 und 16 Jahren alt, filmten, wie ein junger behinderter Mann in einem Teich ertrank. Sie amüsierten sich köstlich dabei und verspotteten den verzweifelt um Hilfe Rufenden sogar noch. Doch sie werden straffrei bleiben, denn es gibt in der US-Rechtsprechung nichts Vergleichbares zu unserem Gesetz über unterlassene Hilfeleistung. Vielleicht wird ja die (vermutlich kurze) heftige öffentliche Reaktion auf allen Seiten zu wichtigen Denkanstößen führen – vor Allem wünsche ich dies den betroffenen Jugendlichen, auch wenn sie nicht bestraft werden.

Nachtrag 20.1.18: Mit Stand vom November 2017 hat Facebook 2.1 Milliarden Nutzer weltweit, in Deutschland sind es 31 Millionen (Stand September 2017). Die Tendenz ist weiterhin steigend. Warum ich das überhaupt erwähne? Es hat mit dem Artikel oben zu tun, mit dem Begriff der »totalen Konkurrenz«. Nein, Facebook ist nicht schuldig an der Eskalation dieses Problems (ich zumindest sehe es als Problem). Das ist eine menschliche Tendenz, die aufkommt und sich verstärkt, wenn wir sie uns nicht bewusst machen und bewusst bremsen und gegensteuern. Facebook und andere »soziale Medien« tun jedoch genau das Gegenteil: Es sind Plattformen, auf denen sich alle darstellen, sich fortlaufend jeder mit jedem vergleicht. Sie unterstützen den Prozess, eine soziale Hackordnung zu schaffen: Umair Haque vom Guardian hat sich Gedanken gemacht, was es bedeutet, dass diese Plattformen pausenlos und weltweit »ich-gegen-dich«-Interaktionen zwischen Menschen vermitteln.

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