Mittwoch, 8. Juni 2011

Der Schwanz und das Prinzip »Männlichkeit« – eine nachdenkliche Polemik

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Der Schwanz und das Prinzip »Männlichkeit« – eine nachdenkliche Polemik

Das Prinzip Männlichkeit – ich sage bewusst nicht »Das Prinzip Mann« – ist das Prinzip der absoluten Macht, des »Allmächtigen«, des Herren über Leben und Tod, des verkörperten (menschlichen) Größenwahns. Interessant, dass die monotheistischen Religionen ihren Gott genau so sehen, nicht wahr?

Alles hat zu geschehen, weil es MEIN Wille ist, jetzt sofort – dein Tod, der nächste Fick, ein steifer Schwanz – halt, das hat Grenzen: Warum? Weil ein Schwanz immer noch etwas Lebendiges ist – zumindest war er das bislang, selbst wenn sein Besitzer sich angewöhnt hatte, geil zu werden durch den Rausch seiner Macht, seiner Überlegenheit. So gab es immer noch die kleine Chance, dass … er nicht steif wurde oder zum unerwünschtem Zeitpunkt schlaff. Das durfte nicht sein: Die letzte Bastion der Welt, die sich noch nicht völlig SEINEM Willen unterworfen hatte, und dazu noch in einem sprichwörtlichen Kernbereich seiner Macht!

Forscherhirne rauchten, jahrzehntelang, dann war es so weit: Viagra war geboren – ein Kind SEINES genialen Geistes! Endlich – SEIN Wille wirkte nun auch hier uneingeschränkt. Nicht Fühlen – oder nur das, was passte –, und Funktion und Effizienz endlich auch in diesem Bereich seines Lebens! Welch ein Durchbruch! Welch ein Machtgewinn! Der stählerne Mann nun auch mit einem stählernen Schwanz, jederzeit bereit, fickt die ganze Welt! Ohne Pause, atemlos, doch ausdauernd; guter Stahl kennt keine Ermüdung, keine Erschöpfung, keine Niederlage, keine Gefühle. Männer als lebendige Panzer. So ziehen sie in die Welt hinaus, erobern, schlagen Schlachten – manche mehr mit der Waffe, andere mit ihrem Köpfen. Sie sterben manchmal dabei, doch immer sind sie eines: überlegen. Stehen über den Dingen, den weibischen Bedenken, dem läppischen Leben. Was ist das schon, bei all der Pracht, der Machtfülle?

Je mehr Maschine, desto besser fühlt er sich. Tuning ist angesagt – zum Beispiel in der Muckibude, neuerdings auch beim Chirurgen. Und natürlich in Punkto Bewusstsein: Neulich schaute ich mal wieder bei »Gaytube.com« vorbei – einem kostenlosen schwulen Pornoportal. Dass die überwältigende Zahl der dort eingestellten Filme Werbe-Appetithäppchen für kostenpflichtige Pornoseiten mit entsprechenden Links sind, war schon immer so. Doch hier und da gab es auch noch mal ein Video, das eine gewisse Sinnlichkeit ausstrahlte, das zwei Menschen-Männer in lustvoll-sinnlichem Umgang miteinander zeigte, zumindest für einen Augenblick.

Doch inzwischen ist selbst das offenbar Vergangenheit. Nur noch mehr oder weniger gut aussehende Männerkörper, oft ohne Kopf gezeigt, »performen« dort, zeigen männliche »Leistung« – möglichst große Schwänze, natürlich, und »Action«: Ficken, ficken, ficken, und wenn gewichst wird, dann natürlich auch mit der entsprechenden Performance. Stählerne Körper beim stahlharten Sex – das zumindest ist das Ideal. Alles dreht sich um den Schwanz, aber auch wirklich alles.

Ich finde Schwänze auch faszinierend, doch da »hängt ja noch ein Mann dran«, um das Pferd mal ganz von hinten aufzuzäumen. Wenn ein großer, stahlharter Schwanz alles ist, was zählt, was soll ich da noch als Person? Etwas davon mitzubekommen scheint die meisten eher abzutörnen. Der andere als reine Projektionsfläche für meine Phantasien – alles andere scheint »uncool« zu sein: Hier zeigt dieses Lieblingswort der Moderne, »cool«, seine unmittelbare Bedeutung. Um es gleich vorauszuschicken – meine Anmerkung, die gleich folgen wird, kennt zum Glück auch etliche Ausnahmen, und das sind die Geschenke, das sind die Erlebnisse, die zu den schönsten und geilsten meines Lebens gehören. Doch mir begegnete es zunehmend in den vergangenen ca. 25 Jahren (so lange kenne ich schon die Einrichtung »schwule Sauna« aus eigener Erfahrung), dass sich viele Männer nicht mal für zehn Minuten einlassen wollten. Und das, obwohl an diesem Ort unausgesprochen klar ist, dass es ums Genießen geht, und wenn sich zwei näher kennen lernen sollten, dass ist das ein Glücksfall.

Doch muss »mein Herz im Schrank bleiben«, wie es mal jemand ausdrückte, auch wenn es hier nicht um die große Liebe und die ewige Treue geht? Ich meine, nein. Doch wo bleibt dieses »Dazwischen«? Das Dazwischen, das zwischen der ewigen, großen Liebe und dem coolen, abgebrühten Sex steht, der den anderen gar nicht wirklich als Gegenüber wahrnehmen will?

Die schwule Sauna könnte ein Tempel sein, ein Ort der gegenseitig gespendeten Lust, der Geborgenheit und der Freude – und sei es auch nur für zehn Minuten. »Zehn Minuten« ist für mich hier allerdings nur eine Metapher; die meisten der oben angedeuteten sinnlich-geilen Feuerwerke währten Stunden …! Diese Einrichtung könnte ein Ort der Begegnung sein, der Freude darüber, einen anderen Menschen (oder auch mehrere) in einer menschlichen Unmittelbarkeit zu erfahren, die in unserer immer abstrakter und zersplitterter werdenden Welt verloren zu gehen droht.

Mit unseren Körpern sprechen wir die unmittelbarste und älteste Sprache der Welt – und potentiell, je nachdem, inwieweit wir uns von kulturellen Tabus freimachen können, auch eine Sprache, die allen in dieser Form gemeinsam ist. Doch wir verfeinern und kultivieren diese Sprache nicht, im Gegenteil, sie wird immer mehr zum Gestammel, zum Vorzeigen des Machtsymbols Schwanz als einziger gültiger Geste – und damit kann ich auch die Männer wieder mit einschließen, die nur mit Frauen Sex haben (wollen). Denn die Grundhaltung ist letztlich weitgehend die gleiche, egal ob sich ein Mann auf einen Partner des anderen oder des eigenen Geschlechts bezieht.

Der Schwanz als Machtsymbol und -Mittel – der neue Machismo lässt grüßen. Entgegen voreiligen Verlautbarungen war der Machismo meines Erachtens nie tot, er hat sich nur umgezogen – kleiner Kostümwechsel, und nun der nächste Auftritt. Natürlich ist heute wesentlich mehr an Spektrum männlicher Identität möglich als, sagen wir, vor 40 Jahren – obwohl ich den Eindruck habe, die Dinge entwickelten sich als Ganzes schon wieder in die andere Richtung. Zu viele Möglichkeiten der Identität verunsichern auch, und je schlichter die Gemüter, desto »einfacher« muss alles gemeinhin sein: Mann bleibt Mann und Frau bleibt Frau.

Es gibt nur eine rudimentäre Kultur der Sinnlichkeit, jedoch eine ausgefeilte der Macht und der Gewalt. Gewalt, die unmittelbarste Ausdrucksform von Macht, hat Konjunktur. Gehe ich in ein Geschäft, das Video-DVDs verkauft, so würde ich tippen, dass bestimmt 85 Prozent der angebotenen Filme direkt oder mittelbar mit Gewalt zu tun haben – Action, Krimis und Thriller, Horrorfilme – und selbst in vielen Filmen, die sich nicht explizit einer gewalttätigen Handlung widmen, kommt das Thema zumindest indirekt vor. Gut, wir leben in einer offen oder verdeckt gewalttätigen Welt. Doch wir kultivieren und vertiefen das, mit dem wir uns am eingehendsten beschäftigen – zuungunsten anderer Lebensbereiche. Wenn sich der Löwenanteil unseres »Entertainments« um Gewalt dreht, dann fokussieren wir unsere Aufmerksamkeit dorthin und eben nicht auf Anderes. Diese Aufmerksamkeit ist dort gebunden, und auch unsere Gedanken gewöhnen sich an Gewalt, wir finden sie zunehmend selbstverständlich. Und dass vor allem junge, verunsichert-neugierige Männer das alles mal ausprobieren wollen, sehe ich als folgerichtig. Manchen reicht dabei ein Computerspiel nicht mehr aus.

Man mag einwenden, dass das schon immer so war. Gut, das stimmt vielleicht für die Zivilisationsgeschichte, doch es ist ein Unterschied, ob ich mit einem Schwert, einer Kanone oder einer Atombombe hantiere …

SEIN Wille geschieht also, im Himmel und auch auf Erden. Es könnte allerdings jetzt womöglich der Eindruck entstehen, ich hielte Frauen für die besseren Menschen, oder dass »Weiblichkeit« besser sei als »Männlichkeit«. Doch so einfach sind die Dinge in meinen Augen nicht. Zum einen, weil Frauen aus Widerstand und als Komplementär zur »Männlichkeit« sich genauso verbogen haben wie die Männer – nur meist in eine andere Richtung. Zum anderen haben Frauen die Kunst der Intrige und der (psychischen) Manipulation über die vielen, vielen Jahrtausende des Patriarchats hinweg oft zu einer Perfektion entwickelt, die vielen Männern noch immer nicht bewusst zu sein scheint. Diese Kunst ist ein nach außen hin unspektakuläres, doch letztlich absolut ebenbürtiges Pendant zum männlichen Machtanspruch, der in der Regel mit mehr oder weniger offener Gewalt durchgesetzt wird.

Hinzu kommt, dass die modernen Frauen, vor allem in den westlichen Ländern, »männlicher« geworden sind und es noch werden. In punkto Härte und »Coolness« können es m.E. heute schon viele Frauen mit Männern aufnehmen, auch wenn ihre Vorgehensweisen noch lange nicht deckungsgleich sind. So sind inzwischen aus meiner Sicht vor allem viele jüngere Frauen »Tussis« und »Macker« in einer Person. Zumindest nach außen hin geht es in diese Richtung, und nach allem, was ich so mitkriege, folgt das Innen mit ein wenig Verzögerung nach. Bei allem Respekt vor Ikonen des Feminismus wie Alice Schwarzer – die rasanten gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen zwanzig Jahre sind über den klassischen Feminismus hinweggerollt wie ein Tsunami und haben eine undefinierbare Melange zurückgelassen.

So bin ich ziemlich entsetzt über die Entscheidung Alice Schwarzers zum Fall Kachelmann, sich mit der »Bild«-Zeitung einzulassen, denn die feministische Sichtweise der ausgehenden achtziger Jahre geht an dieser Entwicklung m.E. völlig vorbei. Ich sehe wenig wirkliche Emanzipation der Frauen – es ist überwiegend eine vermackerte »Weiblichkeit«, die mit einem unkritisch-modebewussten Habitus daherkommt und vor narzisstischem Selbstvertrauen strotzt. Vom Mauerblümchen zur »Macker-Mutti« – das enttäuscht auch mich als Mann.

Mir scheint, das patriarchale Gehabe hat keinen Gegenpol mehr, nicht mal den üblichen verzerrt-klischeehaften »weiblichen«, sondern breitet sich nun als das »neue Bewusstsein« weltweit aus. Dem »Iron Man« folgt nun die »Iron Woman« – schöne neue Welt!

 

Nachtrag 26.8.11: »Wenn wir in unser Inneres schauen und uns das Verhalten fast aller Mitmenschen und unserer politischen Führer betrachten, ist nicht zu leugnen, dass unser Vorbild, unser Maßstab für das Gute und Wertvolle immer noch der heidnische Held ist. Die Geschichte Europas und Nordamerikas ist trotz der Bekehrung zum Christentum eine Geschichte der Eroberungen, der Eitelkeit und der Habgier; unsere höchsten Werte sind: stärker als andere zu sein, zu siegen, andere zu unterjochen und auszubeuten. Diese Wertvorstellungen decken sich mit unserem Ideal von ›Männlichkeit‹: Nur wer kämpfen und erobern kann, gilt als Mann, wer keine Gewalt anwendet, ist schwach und damit ›unmännlich‹«. Erich Fromm »Haben oder Sein«, München 1979, S. 137 Mitte

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